Haimo L. Handl

Totales Wissen - Totale Kontrolle


Nicht, dass es früher, mit wenigen Ausnahmen kleiner, nicht hoch entwickelter Gesellschaften, je "out" gewesen wäre. Aber das Wissen heute ist anders als das Wissen gestern. Anders, als das vorgestrige zum gestrigen Wissen war. Weil früher, vor-vorgestern und vorgestern, zumindest ein gemeinsames Verständnis von Wissen und Nichtwissen galt und von den vielfältigen Arten des Wissens, der verschiedenen spezifischen Formen des Erwerbs, Umgangs mit Wissen, seiner Pflege usw.

Einige unterschieden zwischen Wissen und Macht. Manche meinten, Wissen ist (sei) Macht. Sie täuschten sich; nie waren die Wissenden auch die Mächtigen, meist brachte einen ein Mehrwissen in Gefahr, nicht nur zur Zeit der Inquisition.

Heutzutage, wo die Wissensmanager neue Formen des Wissens durchsetzen und andere nicht nur verdrängen, sondern unterdrücken, stigmatisieren, ja oft erfolgreich völlig unterdrücken und eliminieren, gilt ein eindimensionaler Kanon, ein borniertes Verständnis, ohne dass es als solches auffiele. Jene, die dennoch Kritik üben, werden als Gestrige abgetan. Nichts ist schmachvoller, als in der postmoderner Zeit gestrig zu sein. Es gilt die Zukunft, weil man an die Gegenwart nicht glaubt.

Aber es ist nicht nur eine Frage der Opportunität, des Geschmacks. Es ist eine Frage des Überlebens, des Dabeiseins, des Gewinnens. Wissens ist am Nutzen orientiert. Nutzen wird definiert vom herrschenden System, das man früher Establishment nannte. Heute muss man es nicht mehr so nennen. Aber auch wenn man es deutlich in alltagssprachlicher Manier etikettierte, würde es nichts nützen, weil die Macht der Normierer, Sinnstifter, Regelbestimmer so stark ist, dass jede Kritik nur wie ein Brunzen des Dackels an den Baumstamm ist: ein kleines Fleckchen, nichts weiter.

Diese Macht, dieser Erfolg des managed knowledge (in Denglish oder Neudeutsch heisst das: des gemanagten Wissens) wird durch eine breite und tiefe Kollaboration, ein umfassendes Mitwirken aller Beteiligten, nicht nur der eigentlichen Nutzniesser, ermöglicht. Auch die "Zulieferer", jene, die früher "die kleinen Leute" oder "die Unteren" oder einfach "Werktätige" hiessen, arbeiten ameisenhaft, fieberhaft mit, das System und seine Vorgaben zu stärken, die Ziele zu erreichen. Alles in einem Eifer, wie es sich die Ingenieure der Planwirtschaft nie hätten träumen lassen, wie es die Strategen der totalitären Diktaturen nicht im entferntesten sich hätten ausmalen können: die Internalisierung der Normen, die echte Gewissensbildung geht fast schon so weit, wie sie vor Jahrhunderten vor allem die katholische Kirche mit Erfolg erreicht hatte. Sie konnte damals mit ihrem Bild des allwissenden Gottes, jenes Wesens, das als Big Father mächtiger als jeder Big Brother alles wahrnimmt, eine Instanz schaffen, vor der jeder, wirklich jeder, nur nackt, bloss sein konnte und wusste, dass er dieser Kontrolle nie, wirklich nie ausweichen konnte. Also musste er lernen, in dieser totalen Auslieferung sein Leben einzurichten: mitmachen oder draufgeh'n (weggehen war nicht möglich, also war der Weggang ein Draufgang: Gang vom Leben in den Tod). Weder die Gestapo , Tscheka , noch der NKWD hatten das erreicht, wiewohl sie nahe dran kamen.

Das gegenwärtige Schreckensregime ist in gewisser Weise schlimmer, weil viel feiner, viel mächtiger. Die angestrebte Kontrolle ist total. Früher war die diktatorische Totalität beschränkt durch die geringer entwickelte Technik. Die heutigen Strategen haben eine Technik und einen Technikglauben unter und hinter sich, wie nie zuvor: das ermöglicht eine Macht und Kontrolle wie noch nie dagewesen. Zudem gelang es ihnen, ähnlich der frühen Kirche, die Opfer glauben zu machen, sie seien nicht nur keine Opfer, sondern sie würden davor bewahrt Opfer zu werden: vor den Feinden, die die immer aktiven Medien in direkter und indirekter Systemanforderungserfüllungen dauernd propagieren. Das System ist fast perfekt.

Wir leben daher in dem absurden Zustand, dass ein Aufgeklärter unaufgeklärte, atavistische , rohe Reaktionen begrüssen muss, die er vorher mit Recht zurückgewiesen und verurteilt hätte, nur, um diese Schreckensherrschaft zu schwächen und hoffentlich zu Fall zu bringen. Eine schier unlösbare Aufgabe. Man gewinnt nicht leicht, wenn man mit Belzebub den Teufel verjagen will.

10. Jänner 2004