Haimo L. Handl

Netcult  -  Kolumne im COMPUTER JOURNAL  # Ausgabe 5/2000

Internet und Schreibkultur



Viele Internetbenutzer, üblicherweise "User" genannt, meinen, im Internet würden vor allem visuelle Daten, Bilder und Grafiken übermittelt. Eine beweiskräftige Prüfung solch einer Annahme ist aus technischen Gründen unmöglich; sie wäre auch wirtschaftlich nicht vertretbar.

Aber aus der Entwicklung der vernetzten Kommunikation lässt sich mit hoher Wahrscheinlich annehmen, dass der Anteil der Schriftdaten bei weitem überwiegt. Die viel beschworene oder verteufelte Bilderflut gibt es objektiv nicht, sie erscheint nur einigen subjektiv.

Interessanter und sozial relevanter aber ist die Frage nach der Auswirkung der neuen Kulturtechnik auf die Schriftkultur, auf das Schreiben. Dabei geht es nicht nur um die Frage nach der Quantität, sondern vor allem nach der Qualität. Also: wird mehr geschrieben als früher? Schreiben mehr Leute als früher, aber weniger? Ist eine Qualitätssteigerung der Schriftkultur ablesbar? Was wären die Bemessungskriterien?

Ganz Kritische würden vielleicht auch fragen, weshalb man überhaupt so fragen solle, weil man damit ja schon von der Superiorität der Schriftkultur ausgehe. Deren Fragen würden etwa lauten: wird der sogenannte Verlust an Schriftkultur kompensiert durch einen Gewinn an erweiterter Schriftkultur, deren Qualitätskriterien weiter gefasst sind als die alten, üblichen?

Mit Sicherheit lässt sich feststellen, dass mehr Personen als früher jetzt selbst schreiben. Vor allem in den nicht privaten Bereichen. Früher war es für "Vorgesetzte" üblich zu diktieren. Fast nichts wurde selbst geschrieben. Aufgrund der direkten und oft interaktiven Kommunikation müssen viele "Chefs" auf solche Hilfen verzichten: die Notwendigkeit der schnellen Interaktivität erzwingt Direktheit: also tippt Boss selbst ein... Nur noch längere Schriftstücke oder Inhalte, die nicht der direkten raschen Kommunikation dienen, werden ins Diktiergerät geredet.

Im Privatbereich erzwingt die Wahrung der Privatsphäre und Intimität das eigene Reintippen, wenn man im Chat mit einer oder mehreren Partnerinnen online kommunizieren will. Aber Direktheit wäre auch hier über "Vermittler", die man früher bei uns "Tippmamsellen" nannte, nicht möglich.

Man sieht, die Technik hat Auswirkungen auf das Sozialverhalten, das sich dann auch in der Kulturtechnik äussert.

Briefschreiben war immer schon ein Privileg Gebildeter. Die Masse schrieb nicht oder brachte es nur fertig, klischierte Floskeln auf Ansichtskarten zu kritzeln. Im Berufsleben war Korrespondenz eine wichtige Angelegenheit. Durch die Netzkommunikation hat sich das verändert: Zum konventionellen Brief, der noch seltener und damit bedeutsamer wurde, kam als Neuerung die elektronische Post, die e-mail, welche einen eigenen Schreibstil förderte, der sich gänzlich vom bisherigen Korrespondenzstil unterscheidet. Die Geschwindigkeit, eine bestimmte Flüchtigkeit führt dazu bzw. wird als Entschuldigung genommen, dass man weniger auf Rechtschreibung und korrekte Syntaktik achtet. Hauptsache, die Sache kommt "rüber" und alles geschieht rasch. Antwort wird meist sofort erwartet. Die Aküspa (Abkürzungssprache) ist wieder in ihr Recht gesetzt und die Freiheit, die grosse neue Freiheit zeigt sich auch darin, dass frühere Formalkriterien der Schriftkultur ausser Kraft gesetzt sind: die Möglichkeiten unkompliziert auf X Schriftarten und Gestaltungsvorlagen zurückgreifen zu können, unterminierte den herkömmlichen Kanon der Schriftkultur bzw. dessen, worauf geschulte Grafiker und Typografiker bis vor kurzem noch achteten.

Der Preis der neuen Freiheit als Ausweis der neuen Schreibkultur ist eine gewisse Unverbindlichkeit typografischer Gestaltungsgrundsätze und Merkmale.

Insgesamt darf man also sagen: es wird mehr geschrieben als früher, und das dazu noch "freier", weil ungebundener und "regelloser". Das ist ein gewisser Fortschritt, wenn auch keiner, der alle zufrieden stellen wird.