Haimo L. Handl

Netcult  -  Kolumne im COMPUTER JOURNAL  # 4/2000

Offenes Netz



Je erfolgreicher das Internet wird, desto deutlicher wird auch den vielen Menschen, die es nutzen, was von Beginn an den Pionieren klar war: das Netz ist offen.

Dieses simple Faktum wurde in seiner Tragweite anfänglich von vielen nicht erkannt. Erst durch den jüngsten Boom wird diese Tatsache betont, wobei allerdings meist nur die Gefahren hervorgekehrt werden. Die Offenheit als Gefahr, die als Antwort die totale Kontrolle und Zensur fordert. Der Vorgang ist typisch und historisch. Die Einführung und Etablierung neuer Medien hat meist sofort die Kontrolleure auf den Plan gerufen. Verständlicherweise, barg doch die Möglichkeit massenhafter Information ein subversives Potential, das den Interessen der Herrscher, früher wie heute, nicht entgegenkam.

Mit dem interaktiven Netz hat sich das alles drastisch verändert. Und Offenheit bedeutet erstmals wirklich, was das Wort meint:
offen schliesst alles ein, es gibt keine Aussonderung von rechts oder links, Norden oder Süden, Westen oder Osten. Auch die Extreme sind inkludiert. Klar doch, sonst wäre das System kein offenes. Nachdem seine Denzentralität keine zentrale Kontrolle und Steuerung erlaubt, ja nicht einmal eine wirklich effektive Teilkontrolle möglich ist, verwundert es nicht, dass Wächter, Hüter und Polizisten aufschreien und warnen. In den westlichen Demokratien wird der Ruf nach Zensur und Kontrolle etwas kaschiert und kommt nicht so rüde rigid daher wie in den diktatorischen oder totalitären Gesellschaften, die naturgemäss (eigentlich „kulturgemäss“!) die meisten Probleme mit dieser anarchischen Einrichtung haben. Bei uns, das heißt in der sogenannten Freien Welt, bemüht man primär das Wohl der Jugend, der Kinder, sekundär die geistige Gesundheit der Bürger zur Legitimation von Versuchen, das offene Netz zu einem überschaubaren, geschlossenen zu machen, das Chaos zu ordnen nach etablierten Ordnungsprinzipien. Dazu müssen Zensurmassnahmen verschiedenster Art eingeführt und durchgesetzt werden. Entsprechend der Camouflage werden solche Zensuren anders genannt: Euphemismen sollen helfen, die Kontrolle weniger drastisch erscheinen zu lassen. Mühsam erkämpfte Bürger- und Freiheitsrechte, wofür an prominentester Stelle das First Amendment der amerikanischen Verfassung steht, werden unter „Sachzwängen“ zum Wohle der gefährdeten Internetbenutzer unterhöhlt bzw. aufgehoben.

Die Staaten mit ihren Regierungen kommen nicht zurande mit der neuen Freiheit, dem neuen, potentiell kreativen Kommunikationschaos. Die Forderungen nach Zensur und Kontrolle sind Forderungen nach der alten Ordnung und ein skandalöser Widerspruch zur Offenheit und Fortentwicklung.

Zensur ist ein Schwächezeichen! Man soll sich nicht irre machen lassen durch die Warnungen vor Naziseiten, Rechtsextremismus, Terrorismus und dergleichen! Das ist die ganz normale Seite der Offenheit. Das könnte man nur ausschliessen, wenn man polizeistaatlich kontrollierte: Hardwareverkauf, Registrierung, Zugangskontrolle, Zensur. Der Schaden für die Gesellschaft durch solche Massnahmen der Saubermänner wäre katastrophal.
Tröstlich, dass einmal erreichte Standards sich nicht so schnell wieder rückgängig machen lassen. Die Offenheit hat wirklich was für sich!