Haimo L. Handl

Netcult  -  Kolumne im COMPUTER JOURNAL  # 6/2001



Der Krämerladengeist

Früher waren Gewerbe und Handel durch die Zünfte organisiert und kontrolliert. Das hat sich geändert im Zuge der Modernisierung. Die Modernisierung erfolgte durch den wirtschaftlichen und sozialen Wandel. Alles wurde "freier", offener, "transparenter". Für immer weniger Dienstleistungen brauchte man eine eigene Konzession; immer weitere Bereiche durften in bestimmten Gewerbesparten abgedeckt bzw. "bedient" werden.

Durch technische Neuerungen gingen bestimmte Berufe verloren bzw. nahmen drastisch in ihrer Bedeutung ab; jeder erinnert sich an das grafische Gewerbe sowie den Buchdruck und seine dramatische Veränderungen, die auch durch künstlich hochgehaltene Zunftkontrollen nicht hätten verhindert werden können.

Im Buchhandel war es ähnlich: als Libro begann, Bücher nach dem Supermarktprinzip zu vertreiben, leisteten die Buchhändler erbitterten Widerstand. Heute wissen sie, dass die Hauptkonkurrenz nicht von Ketten wie Libro stammt, sondern von der neuen, interkativen Technologie, dem Internet.

Das Internet weitet den Markt wie kein Medium zuvor. Es hebt die Spezialisierung auf, es macht anscheinend den Zwischenhandel obsolet, es reisst (künstliche) Grenzen nieder.

Spezialisten selbst entdecken dieses Medium für sich. Allerdings denken sie oft noch wie vor 50 Jahren und sind empört, wenn andere ähnlich denken und handeln. Dann rufen sie nach der alten Zunftordnung, möchten am liebsten wieder eine starke Gewerbepolizei, Macht und Kontrolle. Die "Krämer" jammern und wollen sich schützen.

Als kürzlich eine Lebensmittelkette daran ging, einigen Weinhändlern, die auch übers Internet gut verkaufen, Konkurrenz zu machen mit gleich guten Weinen aber besseren, niedereren Preisen, schrien die Weinhändler auf und argumentierten wie die Krämer vor X Jahren: Wir sind Spezialisten, die Supermarktkette kann nicht den Service bieten wie wir usw. Doch im Netz sind alle gleich: die Qualität zeigt sich beim Produkt und bei der Dienstleistung: zu welchem Preis erhält die Kundschaft wie schnell und sicher das Gewünschte? Ah, das ist interessant, dass die anonyme Supermarktkette gar schneller und günstiger liefert? Und die Qualitätskriterien sind dort keine anderen als beim Weinhändler. Im Netz kann sich der Weinhändler nicht auf sein Spezialistentum berufen. Im Netz ist er ein Netzanbieter, der auf eine reale Basis verweist. Der Unterschied liegt nicht im Virutellen, nur im Realen. Doch soll da der Wein besser sein, weil ihn ein Weinhändler als Spezialist vertreibt?

Die Kunden wissen natürlich um solch krampfhaft versuchte Distinktion, die keine reale ist und ordern, wo sie beste Qualität eben günstiger erhalten.

Aufschlussreich, dass Spezialisten, sobald sie übers Netz von sogenannten Nichtspezialisten konkurriert werden, aufschreien, wie bornierte Krämer vor vielen Jahren. Ja, das sind die Kehrseiten der Neuerungen und Offenheit: mit Ansprüchen oder Sprüchen alleine kann man weder Qualität, Distinktion noch Vorherrschaft bestreiten. Da braucht es schon den Bogen vom Virtuellen zum Realen. Und den können sogenannte Nichtspezialisten auch spannen. Ärgerlich, nicht? Nicht für Konsumenten. Je offener der Markt wird, desto besser für uns. Zunftdenken kann sich im Netz schon gar nicht halten. Gut so und - prost!