Haimo L. Handl

Die Wirklichkeit der Medienscheinwelt

Das Verhältnis "Mensch und Medien" ist schon so komplex geworden, daß manche es um­kehren zum Satz "Medien und Mensch" und damit leise eine tiefgreifende Umwertung und Ausrichtung, eine neue Form der Abhängigkeit, ausdrücken wollen.

Drei kurze, aktuelle Zitate aus einer Tages­zeitung (Basler Zeitung, 27.7.91) sollen hier einige Aspekte des zu behandelnden Prob­lemfeldes aufreissen:

In einem Artikel über Japan und die USA las ich:

"Die Ware Auslandsinformation ist in Japan tatsächlich jederzeit, ausführlich und überall erhältlich. Den Studenten aber hatte etwas anderes gefehlt - sie wußten nicht, was mit all diesen Informationen anzufangen ist. Gerade die Fülle von Informationen über das Ausland, die sich mit eigenen Erfahrungen immer weniger erklären lassen, verwirrt in Japan viele."

In einer Fernsehkritik derselben Zeitung über eine Zigeunerdokumentation ging die Kritikerin besonders auf den Umstand ein, daß die Roma sich für dieses Projekt hergaben und koope­rierten, nachdem sie bis vor kurzem sich immer solchem Ansinnen verschlossen, aus Angst, die Neugierde könne ihnen schaden.

"Nur indem sie sich einer subtilen Dar­stellung nicht entziehen, lassen sich Cliché- und Feindbilder allmählich aufweichen."

Schließlich fand ich in einer Kritik über Max Frisch und sein zweites Tagebuch (1966-1971) neben gescheiten Sätzen zur Krise des Intellektuellen in der Moderne und Postmo­derne und zur Stellung des Künstlers im öffent­lichen Leben ein Zitat von Frisch, das vorzüg­lich eine dritte Position formuliert. Der Kritiker geht auf die Schreiberrolle ein, die eigentüm­liche Handlungspassivität des Tagebuchau­tors, des schreibenden Ich's und meint: "Nicht daß es blind oder taub wäre für das, was Welt ist um es herum. Aber seine Seh- und Hörfähigkeit bleiben folgenlos." Darauf folgt das Zitat von Frisch:

"Wenn ich es wieder lese, was in Algier geschieht oder anderswo, und wenn ich es mir einige Augenblicke lang vorstellen kann, gibt es nichts anderes, und die Vorstellung ist kaum auszuhalten. Und ich bin bereit zu jeder Tat. Aber ich sitze hier, eine veraltete Zeitung lesend, und halte es aus. Tatlos..."

Wir haben hier drei wesentliche Aspekte versammelt, die sich leicht weiterführen und ausbauen lassen.

Zuerst ging es um die Information und das Phänomen, daß zuviel In­formation lähmt bzw. daß man fähig sein muß, die Fülle der Information richtig handzuhaben, will man sich nicht verwirren.

Wir müssen also wissen, was Information ist oder sein kann, wie es um die Information steht, wie man generell mit Information umgeht.

Der zweite wichtige Aspekt ist die eigene Erfahrung. Der Korrespondent bemerkte richtig die Problematik im Umgang mit Informationen, die sich nicht mit eigenen Erfahrungen erklären lassen. Wir fragen weiter, was läßt sich mit eigenen Erfahrungen in einer hochtechnisierten, vernetzten Welt erklären?

Das zweite Zitat aus der Fernsehkritik geht auf einen ganz ande­ren, positiven Aspekt ein: Das Massenmedium Fernsehen als Erzie­hungs-, icht bloß Informationsmittel. Die Kooperation als Voraussetzung für reale soziale Ver­änderungen. Hier wird das direkte Ineinandergreifen von Medium, Medienwirkung, Sozialrealität ange­sprochen und zwar für einmal positiv. Der Kritiker hebt hervor, daß solch eine Sendung Vorurteile mindern könne usw. Eine hoff­nungsfrohe Sicht, nachdem die Produktion von Stereotypen und der Beitrag zur Verfestigung von Vorurteilen gerade durch das Fernse­hen eminent ist.

Der dritte Punkt spricht nicht ein Medium an, sondern das Individuum und eine bestimmte Haltung. Es geht um Aktivität und Passivi­tät, um die Unmöglichkeit, aktiv werden zu können, auch wenn man wollte, es geht vor allem um die Vorstellung, das Einfühlen und Ermessenkönnen, das fast nicht mehr zu ertragen ist. Es handelt sich also um eine Ohnmacht, die, wenn bewußt, niederdrückt, einen tiefen Zwiespalt offenbart, der schmerzt.

Frisch schreibt dieses Phänomen nicht einem bestimmten Medium zu, es gilt generell für alle Medien. Hier läßt sich eine Brücke schlagen zum erstgenannten Problem der Informationsverarbeitung und der Problematik mit dem Erklären durch eigene Erfahrung. Hier rührt der Autor auch an das Problem von Authentizität und Wahr­heit. Die Fragen, welche sich aufdrängen, sind: Was heißt ak­tiv/passiv? Wie ist es um die Vorstellungen bestellt? Soll man sich hineinfühlen? Man kann doch nicht überall mitleiden! Was ist Wahrheit? Wie prüfe ich Wahrheit? Muß ich zu allem Stellung nehmen? Was heißt Stellungnahme?

Eine Fülle von Fragen, die alle die Komplexität des Verhältnisses von Mensch und Medien behandeln. Man könnte leicht, so wie es vielfach unternommen wird, auf den technischen Aspekt der Medien­nutzung eingehen, auf Wirkungsaspekte, Programmwahlmomente, Zuschauerverhalten usw. Ich möchte aber eher die zugrundeliegenden Faktoren, die natürlich nicht nur mediale sind, behandeln, um wenigstens einige Bereiche des Verhältnisses Mensch und Medien bes­ser zu verstehen. Damit wird hoffentlich deutlich, daß einseitige Aktionen nur im Medienbereich wenig fruchten, weil die sozial-de­terminierenden Faktoren des Gesellschaftlichen außer acht gelassen worden wären.

Beginnen wir also beim Individuum und seiner Wahrnehmung.

Wir erfahren nicht nur in den Medien, sondern generell in unserer Gesellschaft eine ge­steigerte und sich kontinuierlich steigernde Beschleunigung. Die Auswirkungen und Anforderungen an den Menschen sind dabei im Arbeitsbereich, Verkehr oder eben Medien verschieden; für alle gilt aber die wachsende Be­anspruchung und Anforderung an Bewußtsein und Verhalten sowie Reaktionsvermögen. Die menschliche Anpassungsfähigkeit an diese Steigerung ist aber nicht unbegrenzt.

Wir haben einen Orientierungsreflex der auf Reizveränderungen unwillkürlich reagiert. Im medialen Bereich zwingt der rasante Bild­wechsel und das Auseinanderklaffen der Text-Bild-Schere zu höchsten Anstrengungen. Da diese über Dauer nicht zu erbringen sind, wird stärker auf Hauptreize und Bekanntes reagiert; "Tiefgang" und Reflexion treten noch mehr zurück und werden von den Medienproduzenten auch nicht anvisiert. Es bleibt beim raschen Überblick, beim reflexartigen Orientieren auf rasche(ste) Veränderungen, beim nervösen Reagieren auf permanente Augenkitzel.

Das Fernsehen und die elektronischen Massenmedien haben das Ver­ständnis von Raum und Zeit verändert: Die Ausrichtung auf die me­diale Wahrnehmung ist nicht einfach übertragbar auf die Realwelt, welche im Kontrast zur medialen, der vermittelten, als langwierig, monoton und langweilig erscheint.

Zwischen Kognition und Emotion besteht zwar eine Koppelung, aber die Emotion entwickelt sich wesentlich langsamer, so daß sie sozu­sagen hinter der Kognition "nachhinkt". Wäh­rend wir also viel eher in der Lage sind, kognitiv uns auf ein verstärktes Reizangebot einzustellen, laufen die emotionalen Reaktionen langsamer. Das heißt, die emotionalen Reaktionen, Reflexe und Verhaltensweisen können nicht sofort oder so schnell den veränderten Reizangeboten entsprechen. Zwar decken sich Kognition und Emotion nur selten, aber "problematisch" wird es, wenn das Ausein­anderklaffen über Dauer intensiv bleibt und der Orientierungsreflex permanent reagiert, aber die Verarbeitung der Reize, der Wahrneh­mungsereignisse durch die Rasanz nicht mehr möglich wird, wodurch es meist bei den Orientierungsversuchen bleibt bzw. bei den kognitiv nicht mehr hinterfragten oder zu hinterfragenden emotionalen Reaktionen, bei einem nervösen Durchleben von Gefühlen, deren Reizung durch die Dauereinwirkung immer mehr gesteigert werden muß, um überhaupt noch als "Gefühl" wahrgenommen zu werden. Das heißt, die Abstump­fung, welche als Schutz auftritt, wird mittels gesteigertem Reiz­angebot zu durchbrechen versucht, was aber die Beanspruchung erhöht, rascher zu Er­müdung führt usw.

Die Reizsteigerung, die Geschwindigkeit der Kommunikation ist nicht das eigentliche Problem; es ist durchaus plausibel, daß Kin­der, die mit den Neuen Medien sozialisiert werden, eine "verbesserte" Wahrnehmungsfähigkeit entwickeln. Das Problem rührt vom Gesellschaftlichen her: die Lebenssituation, der Stress können da­zu führen, daß gleiche Reizangebote nicht nur wegen ihrer Ge­schwindigkeit "zuviel" werden, Abwehr und Verunsicherung auslösen. Das wahrnehmende Individuum perzepiert ja nicht nur Reize, sondern rezipiert, versucht das Wahrgenommene sinnvoll einzugliedern. Es lebt mit einer Weltanschauung. Von dieser Generalorientierung aus bewertet und interpretiert es. Das Problem liegt also weniger in der Wahrnehmung, als vielmehr in der Kommunikation, in der Quali­tät der Kommunikation, das heißt, in der Art und Weise, wie sinn­voll mit Informationen und neuen Reizen umgegangen werden kann. Es ist durchaus denkbar, daß z.B. Lesen bestimmter Aussagen zu einem Schock führt, obwohl die Reizeinwirkung beim Lesevorgang sich stark unterscheidet vom Ansehen eines modernen Videos.

In ihrem Buch "Philosophy in a new key" (1978 3., erw. Auflage) geht Susanne K. Langer auf die Notwendigkeit der Chaoskontrolle ein so­wie auf das Phänomen, daß unter Stress sonst bekannte Zeichen plötzlich fremd und unver­bunden werden können:

"The story of man's martyrdom is a sequel to the story of his intelligence, his power of symbolical envisagement. For good or evil, man has this power of envisagement, which puts on him a bur­den that purely alert, realistic creatures not bear - the burden of understanding. He lives not only in a place, but in Space; not only at a time, but in History. So he must conceive a world und a law of the world, a pattern of life, und a way of meeting death. All these things he knows, und he has to make some adaptation to their reality.

Now, he can adapt himself somehow to anything his imagination can cope with; but he cannot deal with Chaos. Because his characteri­stic function und highest asset is conception, his greatest fright is to meet what he cannot construe - the 'uncanny,' as it is popu­larly called. It need not be a new object; we do meet new things, und 'understand' them promptly, if tentatively, by the nearest analogy, when our minds are functioning freely; but under mental stress even perfectly familiar things may become suddenly disorga­nized, und give us the horrors. Therefore our most important as­sets are always the symbols of our general orientation in nature, on the earth, in society, und in what we are doing: the symbols of our Weltanschauung und Lebensanschauung. Consequently, in primitve society, a daily ritual is incorporated in common activities, in eating, washing, fire-making, etc., as well as in pure ceremonial; because the need of reasserting the tribal morale und recognizing its cosmic conditions is constantly felt. ... In modern society such exercises are all but lost."

Die "Gefahr" liegt also in der Stress-Situation, welche die Kommu­nikationsfunktion mindert, den Rückgriff auf primitivere, einfachere, sichere Symbole, Stereotypen und Klischees beschleunigt und die Verzerrungen nicht mehr als solche erkennbar werden läßt. Da Chaos nicht auszuhalten ist, wird auf die reduktionistische, ri­tualisierte Kommunikation zurückgegriffen oder in sie verfallen, weil eine andere Kommunikation in der spezifischen Situation eben nicht wirkte, nicht die Angst minderte, nicht die Unüberschaubarkeit tilgte. Da stellt sich gar nicht mehr die Frage, ob die Reduk­tion zu weit geht, die Verzerrung zu krass ist. Es gilt nur die Tatsache, daß das Unbekannte, das Unangenehme, das Fremde eliminiert wurde und das Individuum sich nicht alleine weiß, sondern in Gemeinschaft von Gleichen, die gleich wie es verfahren und so sich gegenseitig stärken.

Gerade in hochtechnisierten, abstrakten Gesellschaften tragen die Massenmedien, vorab das Fernsehen, als ritualisierte Kommunikation zu dieser Sicherheit erzeugenden Reduktion bei.

Vor allem das Fernsehen leistet als ritualisierte Kommunikation einen nicht zu überschätzen­den Beitrag zur Verschleierung der herrschen­den Entfremdung, es erzeugt die Illusion von Nähe, produ­ziert Quasi-Teilhabe, substituierte Teilnahme. Darin, und viel weniger in der technischen Seite der Neuen Medien liegt das ge­sellschaftliche Problem. Diese Erkenntnis ist nicht neu; es sei auf die scharfen Beobachtungen in "Prolog zum Fernsehen" von Adorno (1963) hingewiesen.

Die postmodisch gewordenen Schriften z.B. von Paul Virilo, der einen kausalen Zusammenhang zwischen Hypergeschwindigkeit und Hy­pergewalt sieht, erscheinen nicht zuletzt deshalb postmodern, weil es Schriften der Moderne gibt, die das eigentliche Problem schon früher noch schärfer erkannt und formuliert haben. Ja, auch der Rekurs auf Philosophen wie Nietzsche kann für manche erstaunliche Erkenntnisse zu aktuellen Problemen zutage fördern (zum Problem der "Wahrheit").

Zur Verbindung "Geschwindigkeit - Gewalt" ist anzumerken, daß sie das gesellschaftliche Problem etwas verkennt. Stimmte die Annahme, müßten die schlimmsten Kriege und -Auswirkungen jetzt herrschen. Doch seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich die Barbarei, die damals ohne die technischen Hilfsmittel, wie sie gegenwärtig den Militärs zur Verfügung stehen, industriell organisiert durchgeführt wurde, nicht wiederholt oder eine Entsprechung gefunden. Damit soll nicht gesagt werden, daß die Prospektion eines jetzt schier undenkbaren Horrors nicht erfolgen soll oder kann, eben unter Berücksichtigung der Dimension "Geschwindigkeit". Festgehalten soll aber werden, daß auch ohne gesteigerte Geschwindigkeit schlimmste Barbarei möglich war und ist.

Unter Kriegseindrücken schrieb Adorno seine "Minima Moralia". Von einigen wird seine Radikalität und Brillanz als zeitgebunden abge­tan. Doch seine Erkenntnisse lesen sich "modern". In seinem Bei­trag "Weit vom Schuß" geht er auf die Verbindung von Industrie, Militär und Reklame ein; seine Sätze klingen wie ein Kommentar des kürzlichen Golfkrieges. Für ihn war schon der Zweite Weltkrieg ei­gentlich unerfahrbar: "Überall, mit jeder Explosion, hat er den Reizschutz durchbrochen, unter dem Erfahrung, die Dauer zwischen heilsamen Vergessen und heilsamem Erinnern sich bildet. Das Leben hat sich in eine zeitlose folge von Schocks verwandelt, zwischen denen Löcher, paralysierte Zwischenräume klaffen." (1951:63)

Hellsichtig geht er auch auf ein damals schon erkennbares Moment ein: "Die vollständige Verdeckung des Krieges durch Information, Propaganda, Kommentar, die Filmoperateure in den ersten Tanks und der Heldentod von Kriegsberichterstattern, die Maische aus manipuliert-aufgeklärter öffentlicher Meinung und bewußtlosem Handeln, all das ist ein anderer Ausdruck für die verdorrte Erfahrung, das Vakuum zwischen den Menschen und ihrem Verhängnis, in dem das Verhängnis recht eigentlich besteht." (1951:63f)

Information ist zu einem Fetisch geworden; es geht nicht mehr um Information, sondern um das Gefühl, informiert zu sein. Informie­ren wird unterhaltsam. Die Präsentationsweisen von Unterhaltungs­produkten der Kulturindustrie, von Werbung und Nachrichten glei­chen sich an. Die hohe Entsprechung liegt vor allem im Populärkul­turbereich (Musikvideo) und kommerziellen "Informationssendungen", insbesondere solcher wie von CNN, wo alles, was ins Programm kommt, zur "infotainment" wird.

Geht man von der Informations-Prämisse ab, muß die Rolle und Funk­tion der Medien speziell im Nachrichtenbereich neu interpretiert werden. Ein Interpretationsversuch ist die Auffassung von "infotainment" als ritueller Kommunikation, einer Kommunikation also, deren Sinn nicht in spezifischer Informationsvermittlung und -Verarbeitung liegt, sondern vielmehr im prozessualen Vollzug, in der Aktivität des Rezipierens.

Zwar nicht von diesem Gesichtspunkt, aber diesem nahekommend, formulierte Gay Tuchman in ihrem Buch "Making news" Aspekte dieses Nichtinformierens und einiger Auswirkungen:

"The news consumer is encouraged to sympathize or to rejoice, but not to organize politically. (...) Second, news presentations soothe the news consumers even as they reify forces. (...) By their very availability as resources, these professionally validated se­quences encourage a trained incapacity to grasp the significance of new ideas. Instead, new ideas und emerging social issues - in­novations - are framed by past experience und are typified as soft news." (1978:214f)

"By invoking eighteenth-century concepts (such as its model of free speech) und applying nineteenth-century distinctions (such as public und private rights) to twentieth-century phenomena, news limits knowledge. News obfuscates social reality instead of re­vealing it. It confirms the legitimacy of the state by hiding the state's intimate involvement with, und support of, corporagte capitalism.

Additionally, news both draws upon und reproduces institutional structures." (1978:210)

Die Massenmedien nehmen eine immer stärker Rolle als symbolische "Umwelt" ein. Darüber hinaus nehmen sie vielen Individuen die Ar­beit der Sinnstiftung ab bzw. leisten Vorgaben, die nach ihrer kritiklosen Übernahme durch Mehrheiten einen Typus von Gleichschaltung widerspiegeln, den wir für totalitäre Systeme reserviert hatten.

Berger und Luckmann fanden in ihrer Arbeit "Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit", daß "menschliche Existenz ab initio eine ständige Externalisierung (ist). Indem der Mensch sich entäußert, errichtet er die Welt, in die hinein er sich entäußert. Im Prozeß seiner Selbstentäußerung projiziert er seinen subjektiv gemeinten Sinn auf die Wirklichkeit." (1969:112)

Man kann die Medien als Erweiterungen der menschlichen Sinne auf­fassen. Substituieren Medien die Welt, werden sie zur Projektions­fläche, zum Entäußerungsziel, in das der subjektive Sinn proji­ziert wird. Da die Medien aber Deutungsvorgaben mitliefern, ver­ringert sich der subjektive Aufwand der Sinndeutung, weshalb von einer Art "Gleichschaltung" gesprochen werden darf.

Dieses Deutungsmuster ist nur auf dem Hintergrund unserer westli­chen Industriegesellschaft sinnvoll, welche einen Wandel der Sicht von Öffentlichkeit und Privatheit, von Zivilisiertheit und Intimi­tät, Nähe durchgemacht hat. Es herrscht ein Personalisierungstrend ähnlich dem der Psychologisierung. Nähe wird zum positiven Ziel; der Wunsch nach Nähe ist einer nach Stabilität, Sicherheit und Kenntnis. Nähe ist aber auch Abkapselung, Schweigen und Passivi­tät. Richard Sennett führte die unheilvolle Entwicklung präzise in seinem Buch "Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Ty­rannei der Intimität" (1986) aus, worin er unter anderem vom "elektronisch befestigten Schweigen" spricht. Seiner Ansicht nach kann nur der in Frage stellen und aktiv werden, der sich einläßt, der die Rückwirkung auf sich selbst akzeptiert. Es gibt kein fol­genloses Einlassen. Die Massenmedien bewahren aber gerade davor sich einlassen zu müssen. Sie ersparen sozusagen die Lästigkeit des Einlassens, des sich Auseinandersetzens mit dem Anderen. Die Medien verwandeln Ereignisse in Modelle oder Bilder, die referenz­los konsumiert werden können. Paradoxerweise herrscht gerade in dieser Gesellschaft die Maxime der "schrankenlosen" Kommunikation, die Absicht, alles kommunizierbar zu machen. Es ist der Trugschluß von Authentizität durch Nähe und Unmittelbarkeit, obwohl Distanz eine Bedingung für den Wert eines neuen Gedankens ist (Adorno). Eine grenzenlose Gemeinschaft wäre oder ist eine totalitäre, alles vereinnahmende. Ohne Grenze, ohne Kontrast ist keine Eigenheit, keine Genuinität möglich.

Das Festhalten am Satz, daß nicht  a l l e s  gesagt oder gezeigt werden muß, darf nicht mit Zensur oder einem Bilderverbot verwech­selt werden. Es geht vielmehr um die Einsicht, daß nicht alles je­dem jederzeit zuzumuten bzw. zuträglich ist. Daß es nötig sei, müßte erst einmal belegt werden! Es geht auch um die Verkennung und (positivistische) Überhöhung des Faktischen. Der Zynismus liegt auch darin, daß die Apparate, welche auf "Informationsfreiheit" pochen, nicht nur wenig oder keine Informationen produzieren und distributieren, sondern auch die Bildung möglicher anderer Informationen verhindern.

Die Bewertung der Massenmedien wird zum ideologischen Urteil. Man könnte im Sinne der herrschenden Gesellschaft (früher hieß es "Establishment") die Funktion der Medien, vorab des Fernsehens, gerade darin sehen, daß sie helfen zu ver- und überdecken, zu fil­tern und mindern, was sonst, bei vollem Lichte, in "Wahrheit" un­erträglich wäre und zu Situationen und Aktionen führte, die nie­mand Etablierter wollte.

Die Verwandlung der Gemeinschaft in passive Gruppen, die sich in Pseudonähe ähneln, durch das Fernsehen könnte als Beitrag gesehen werden, über massenmediale Kommunikationsmittel die frühere, bür­gerliche Urbanisierung (Aufklärung, Zivilisation) sukzessive rück­gängig zu machen und zwar in einer Weise, die sich mit der hoch­technisierten Entwicklung verbinden läßt. Deshalb geht es nicht um ein Zurück zur Natur, sondern um ein Aufgeben der Urbanität zugun­sten einer Pseudogemeinschaft, einer mehr und mehr konturlosen Masse von produzierenden Konsumenten, die in dieser neuen media­len Totalität "glücklich" aufgehen. MacLuhan's "global village" als entzivilisiertes Dorf, als Medien-KZ, zusammengehalten und ge­speist aus TV, Neuen Medien und Computervernetzung.

Das System scheint vorerst dabei zu gewinnen: durch die fehlende Anonymität werden notwendige Spielräume verhindert. Dieser Mangel wird medial gedeckt, was eine weitere Konsumentenbindung schafft. Der Triumph der Technik zur Vorspiegelung der Utopie scheint in der Platznahme der Medienrealität gegenüber der objektiven Reali­täten sich nun zu vollziehen.

Literatur:

1.    Adorno, Theodor W.: "Prolog zum Fernsehen." und "Fernsehen als Ideologie." In: ders.: Eingriffe. Neun kritische Modelle. Frankfurt 1963

2.    Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt 1951

3.    Berger, Peter; Luckamnn, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt 1969

4.    Langer, Susanne K.: Philosophy in a new key. A study in t he symbolism of reason, rite, and art. Cambridge, Mass. 1978

5.    Nietzsche, Friedrich: Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre. Hg. v. Karl Schlechta. München 1965

6.    Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Weke. Kritische Studienausgabe. Hg. v. G. Colli u. M. Montinari. 15 Bde. Berlin 1980

7.    Sennett, Richard: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Frankfurt 1986 (Orig.: The fall of public man. New york 1974)

8.    Tuchman, Gay: Making news. New York 1978

9.    Virilio, Paul: Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung. Frankfurt  1989.

10. Virilio, Paul: Die Sehmaschine. Berlin 1989

11. Virilio, Paul: Geschwindigkeit und Politik. Ein Essay zur Dromologie. Berlin 1980

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