Haimo L. Handl

Das Gespenst der privaten Freiheit

Soziale Entwicklungsstände hinken den technischen meist nach. Der naturwissenschaftliche Erfindergeist, die technische Ingeniösität ist schneller als der gesellschaftliche Rahmen, wie er sich im rechtlich-sozialen System organisiert.

Man stößt dann unübersehbar darauf, wenn Konflikte sich mit den herkömmlichen Einrichtungen, Ansichten, Normen, Gesetzen nicht mehr lösen lassen, wenn “Kollisionen” sich einstellen.

Dieses Phänomen zeigt sich vornehmlich im Bereich Gentechnik, Euthanasie oder Intensivchirurgie, aber auch im Kommunikationsbereich.

Die Vernetzung, dank immer leistungsfähigerer Computer und Chips zu “erschwinglichen” Preisen für die Masse potentiell aktuell geworden, schuf und schafft eine Situation, die jener nach den sozialen Umwälzungen aufgrund der Einführung des Buchdrucks vergleichbar ist.

Es geht um Macht und Kontrolle. Es geht um Freiheiten (Plural!). Es geht auch darum, dass Regierungen ihre Machtmonopole inklusive verbindlicher Definition von Freiheit (Singular) nicht gefährden wollen. Trotz aller anderer Rhetorik, trotz bestimmter “verbriefter” Rechte.

Ein Problemkomplex dient mir als Exempel für eine symptomatische Situation, die aufzeigt, dass es mit gewissen Freiheiten doch nicht soweit her ist, dass man sich leicht täuschte über gewisse Grundsätze, Grundrechte etc.

Ich spreche nicht nur von speziellen Zensurbemühungen im Internet, die letzthin von vielen Regierungen angeheizt und von vielen, vielen Medien sensationslüstern aufgegriffen wurden, als ob das Netz nur ein Eldorado von Gangstern, Kriminellen, Perversen und Terroristen wäre (typische, unrühmliche Beispiele finden sich in Zeitschriften wie NEWS oder FOCUS, aber auch in “seriöseren” Blättern kann man oft auf Ergüsse von Panikmachern und Hetzern, Staatsbütteln und Zensorengeister treffen, die alle im Namen der Sicherheit zu Felde ziehen gegen die große Gefahr).

Ich spreche von einer vordergründig unscheinbareren Maßnahme, hinter der sich aber der blanke Machtanspruch der Staatsgewalt zeigt: der Verschlüsselung oder Kryptographie bzw. dem Anspruch des Einzelnen, seine Kommunikation verschlüsseln zu dürfen. Zu dürfen deshalb, weil es technisch schon möglich ist, rechtlich aber nicht möglich sein darf.

Der Widerstand gegen die technische Neuerung kommt nicht nur von faschistischen, faschistoiden oder anderen totalitären Regime, sondern auch von der amerikanischen Regierung, die trotz des berühmten First Amendment ihrer stolzen Verfassung hier eine Front gegen eine “Staatsgefahr” aufbaut und deren Bemühungen einige europäische Vasallen und befreundete Regierungen folgen.

Ebenso symptomatisch wie lehrreich, dass die ersten europäischen Gefolgsstaaten Großbritannien, der Ursprungshort der Demokratie, und Frankreich, das Mutterland der Revolution, sind, und Deutschland, die Quasi-Kolonie des Großen Bruders, sich im Geiste des Grundgesetzes noch sträubt bzw. wo politische Kräfte gegen gewisse Regierungsbemühungen in diesem Sinne sich auflehnen.

Ich will weder auf die spezifisch rechtliche noch technische Seite eingehen, sondern einige Grundlagen der Problematik bedenken. Es geht mir auch weniger um eine Bewertung möglicher Beweggründe dieser Regierungen, hier “ordnend” einzugreifen, obwohl die Strapazierung des Sicherheitsarguments paratypisch ist (zum Mythos “Sicherheit” und wofür er immer herhalten muss, um fast jede Staatsaktion zu legitimieren, ist auch ein Blick in den Essay von Ludwig Marcuse aufschlussreich “Das Märchen von der Sicherheit oder Die unverschämte Vernunft” (1981)) und nicht nur Überwachungsgründe anliegen, sondern auch die der eigenen Spionage, vor allem im Wirtschaftsbereich.

Mir geht es um ein Grundrecht. Grundrecht? Ja, weil ich meine Kommunikationsform untrennbar mit meiner Sprachwahl verbinde.

Der Mensch hat nicht nur (zumindest) eine Sprache, er ist auch frei, eine bzw. seine zu haben. Der Mensch ist Mensch durch seine Sprache. Wir wissen, dass bestimmte Regime Minderheiten in ihrem Einflussbereich oft die Sprache nehmen oder nehmen wollen, ihren Gebrauch unterdrücken, verfolgen, unter Strafe stellen. Die zivilisierte Welt empört sich, fordert Menschenrechtsbeachtung etc.

Stellen Sie sich vor, Sie kommunizieren in einer seltenen Sprache. Der Staat wittert Gefahr. Warum? Weil er nicht sofort mit ihm bekannten Codes konfrontiert wird, weil er Angst hat.

Stellen Sie sich vor, Sie publizieren in einem deutschsprachigen Land in einer ganz seltenen Sprache und die Regierung versagt es ihnen. Oder verlangt teure, beglaubigte Übersetzung. Übertragen sie das auf England, Frankreich oder die USA. Kaum möglich?

Steigern Sie das hypothetische Bild und stellen Sie sich vor, Sie kommunizieren mit wenigen Gruppenmitgliedern in einer “Minisprache”, die deshalb einer Geheimsprache gleichkommt. Jemand hört das ab, meldet es dem Staatssicherheitsdienst, der wittert Unsicherheit und geht gegen Sie vor. Unvorstellbar? (Haben Sie “1984” gelesen und sich Gedanken über NEWSPEAK gemacht?)

Gehen Sie jetzt einen Schritt weiter und stellen Sie sich vor, Sie publizieren in so einer “Geheimsprache”. Die beamteten Sicherheitsagenten, unterstützt von aufmerksamen Bürgern orten sofort den Fremdkörper, das Anormale und, natürlich, wittern Gefahr, schreiten ein.

Bezüglich des letzten Falls kam es aus technischen Gründen bis anhin fast nie soweit.

Wenn sie die Verwendung einer Verschlüsselung Ihrer Kommunikation wie ihren eigenen Sprachgebrauch sehen, wird die Problematik deutlicher.

Nachdem durch die technische Entwicklung eine Verschlüsselung dekodiersicher möglich wurde, eröffnete sich eine völlig neue Situation: jetzt können Einzelne Botschaften austauschen, die jeder Kontrolle, auch der staatlichen, sich entziehen. DAS stellt die Gefahr dar! Allein die Nichtkontrollierbarkeit wird als Gefahr gesehen, unabhängig davon, was tatsächlich verschlüsselt wurde.

Um das Sicherheitsbemühen zu legitimieren, werden alle möglichen negativen Szenarien der Bedrohung anführt: Terroristen, Mafiosi, Gangster, Geldwäscher, Drogenhändler, Kinderschänder, Perverse, Anarchisten, Betrüger usw. Weil man sich derer erwehren muss, weil das organisierte Verbrechen uns in den Untergang treibt, muss der Staat das Recht haben, jede Kommunikation gegebenenfalls lesen zu können, weshalb, wenn schon verschlüsselt wird, die Regierung Zugang zum “Schlüssel” haben muss (dieses Modell wird in den USA praktiziert!).

Unabhängig von der Chuzpe dieser Argumentation (gab und gibt es je größere Gefahren, als die von Staaten? Kein mafiotischer Bandenkrieg, kein Rauschgifthändlerkrieg etc. war je so schlimm, so niederträchtig, so tödlich, wie all die Kriege von Staaten und deren Regierungen im Namen von Gott und Vaterland, Ehre und Blut und Boden etc.!) wird natürlich ein Bild gezimmert, das von der Deckung eigener Sicherheitsinteressen mit denen der Regierung bzw. des Staates ausgeht.

Plötzlich zeigt sich, bedingt durch eine technische Neuerung, dass auch Staaten, die bisher sich immer als Anwälte freier Meinungsäußerung usf. aufspielten, im Grunde doch das letzte Wort, den letzten Blick, also die totale Kontrolle wollen: es darf nichts wirklich geheim bleiben.

Mir erscheint das wie ein Angriff auf meine Sprache! Das klingt etwas pathetisch, soll aber den Hintergrund aufhellen: die letztendliche Kontrolle, die sich gegen Verschlüsselung richtet, kommt einer Verweigerung freier, d.h. unkontrollierbarer Kommunikation gleich.

Wenn jetzt argumentiert wird, nichts, keine Kommunikation, darf letztendlich unkontrollierbar sein, muss man sich klarmachen, welche Position man damit einnimmt: Akzept der Staatsgewalt in einem Ausmaß, das sonst nur Gläubige, die sich einem allwissenden Gott unterwerfen, an- und hinnehmen.

Dem ist Widerstand zu leisten.

Gedanken sind also nicht, wie das Sprichwort sagt, frei. Frei wären sie erst, wenn sie kommunizierbar wären und zwar in frei gewählten Formen. Zu diesen Formen zähle ich die Verschlüsselung, ähnlich meiner freien Sprachwahl.

ad hoc 2/97