Haimo L. Handl

Israel - Palästina: Das Problem mit der politischen Korrektheit

Israel-Palästina, das Problem mit der politischen Korrektheit. Der Titel schon indiziert eine doppelte Problematik: Israel - Palästina einerseits, andererseits politische Korrektheit. Um das zu verstehen oder näher zu erörtern, müssen wir die Begriffe hinterfragen.

Was ist politische Korrektheit? Politische Korrektheit ist kein neues Phänomen (1), wiewohl es als neues amerikanisches zuvorderst auftritt. Es gibt zwei Hauptrichtungen der Deutung: Eine, ältere, geht auf eine Minderheitenäußerung der Forderungen und Anmaßungen bestimmter Wertenormen als Minderheit gegen die Mehrheit zurück. Und es gibt das neue Phänomen: Als Ausdruck der herrschenden Werte- und Normenstrukturen, praktisch der "ungeschriebenen" Gesetze neben den geschriebenen, die beachtet werden müssen. Bei Vergehen gibt es Sanktionen entweder mit der sozialen Ächtung oder sogar mit gravierenden Folgen, wie Berufsverbot, Verfolgung, und in einigen Ländern natürlich noch wesentlich härteren Maßnahmen durch staatliche Instanzen.

Die früheren Beispiele verstanden sich oft in der aufklärerischen Absicht. Ich erwähne Sternberger, Süßkind, Theodor Adorno etc. Aber diese Art von Versuch im Sinne einer politischen Korrektheit ein Gegenüber anzumelden, verstand sich nie mit der Sanktion des Mundtot-Machens, des Zum-Schweigen-Bringens. Im Gegenteil, es war die Aufforderung zum Diskurs, natürlich gestützt auf die Wertstruktur und den Werteinhalt dieser Vertreter. Und da ist der wesentliche Unterschied zu dem, was sich vor allem in der westlichen Welt, die sich so frei dünkt und so frei gibt, änderte. Hier hat der Mehrheitsausdruck der Normen und geltender Wertesysteme einen rigiden Grad an Unduldsamkeit erreicht, der nicht nur einer feinen Sprachregelung gleichkommt, sondern einem Wertesystem, das bei Verletzung mit realen Sanktionen droht. Interessanter Weise geschieht dies in den westlichen Ländern Europas und sogar in den USA, wiewohl dort - bedingt durch die Geschichte der freien Meinungsäußerung, gestützt auf "The First Amendment" , die Lage etwas komplizierter und diffiziler ist. Und wir erleben die schier absurde oder paradoxe Situation, dass amerikanische Vertreter Aussagen, Einstellungen und Verhaltensweisen oder Handlungen, die in den Vereinigten Staaten gesetzt werden, nicht gleich "beantworten", als wenn sie in anderen Ländern getätigt werden, weil sie dort eben einem anderen Regelsystem unterliegen, obwohl - und dafür werde ich später Beispiele bringen - die Rigidität der Ahndung und die Versuche der indirekten Gleichschaltung zunehmen, was auf eine Refaschistisierung zurückzuführen ist, die eine globale ist und insbesondere die westliche Welt erfasst.

Wir haben einen zweiten Prozess. Wir erleben einen Prozess der Resakralisierung und Mythisierung bestimmter Themen aus dem Bereich der Geschichte, der Philosophie und der Gesellschaftswerte . Das steht im klaren Widerspruch zur aufklärerischen Tradition bzw. nicht nur zum Pathos sondern auch zum Auftrag der Aufklärung hinsichtlich Emanzipation und Offenheit. In diesem widersprüchlichen Spannungsfeld gewinnt das Terrain jener, die auf diese Tabuisierung und Retabuisierung gewisser Themen hinarbeiten, an Stärke, und das ist natürlich einer demokratischen, offenen Gesellschaftsentwicklung abträglich.

Die heißesten Themen, die diesem Prozess unterzogen werden, sind einerseits aus der Geschichte - ich erwähne nur den Holocaust - bekannt, aber es sind auch sogenannte kleinere Themen. Wie absurd, wie paradox, wie pervers hier Änderungen, offizielle Sprachregelungen, Wertungen und Gefolgschaften erfolgen, sei nur an zwei ganz kleinen Beispielen illustriert:

The "evil's empire" - die frühere Sowjetunion -, vom Krieger Ronald Reagan so skizziert, war der Hauptfeind der USA und nahm einen prominenten Platz in deren Außenpolitik ein. Zur Bekämpfung dieses Feindes waren fast alle Mittel recht. So unter anderem das Anheuern und Finanzieren von Mudjahedin, von Taliban, also von fundamentalistischen Gruppierungen im Kampf gegen diesen klar definierten Feind. Es war natürlich auch die große Motivation, in Israel einen Partner zur Kontrolle eines hegemonial wichtigen Bereiches der Außenpolitik und der amerikanischen Interessen zu sehen und zu stützen. Da gab es ein Bild, als Vertreter solcher Gruppen von Reagan in Washington empfangen und für die Öffentlichkeit begeistert als Äquivalente der Gründerväter der amerikanische Republik hingestellt wurden, weil sie - zwar aus einem anderen Gesellschaftssystem stammend - dennoch die Werte der Selbstbestimmung und des Widerstandes zeigten und natürlich in den Interessen der USA fungierten. 1985 gab es da so einen bekannten, in die Weltpresse eingegangener Empfang. 1998 - Bill Clinton war der Präsident - waren Angehörige eben dieser vorher so hoch gepriesenen und hoch finanzierten Gruppen plötzlich die "devils". The "evil's empire" - die Sowjetunion - war, wie Sie wissen, zusammengebrochen. Das kommunistische Empire brach in sich gleich einer Implosion zusammen, der Feind war weg.

Wo war der Feind? Der Feind war schnell zur Hand. Wie ging die Presse, wie gingen die Massenmedien, wie gingen die Gebildeten, die Informierten, die Intellektuellen mit diesem Wechsel um? Der Grad oder das Ausmaß und die Geschwindigkeit, mit der dieser Wechsel vollzogen werden konnte, mag Ihnen anzeigen, wie tief das kritische Denkvermögen der Intellektuellen oder dieser ach so Gebildeten reichte und reicht. Ein Kernpunkt in dieser Auseinandersetzung war natürlich nicht nur ein vordergründiges politisches Moment. Dazu bedurfte es bestimmter Wertstrukturen, die als Referenz und als Rekurs taugten und immer noch taugen. Und in Verbindung mit der Resakralisierung war es nun möglich, bestimmte Themen außer Diskussion zu stellen. Weshalb? Wenn etwas sakral wird, heilig wird, tabu wird, wird es der Argumentation entzogen, denn Argumentation bedingt die Möglichkeit der Prüfung und des Widerspruchs. Glaubensinhalte können Sie annehmen oder ablehnen, aber Sie können über sie nicht argumentieren oder diskutieren. Dass heißt, in dem Prozess dieser Tabuisierung war es nur nötig, einem Gegenüber, einem Opponenten oder einem Gegner entweder im Negativen zuzuschreiben, er argumentiere nicht, er sei bereits in diesem Bereich, wo man nicht mehr miteinander diskutieren könne, weil ... z. B. weil er Antisemit ist. Und in diesem Augenblick habe ich jedes Recht zu sagen: "Mit Dir rede ich nicht, beziehungsweise (das ist ja noch zahm) das ahnde ich.

Was ist Antisemitismus? Es ist eine Vorurteilshaltung. Es ist ja ganz klar, dass es während des zweiten Weltkrieges und vor allem danach das Bestreben gab zu erkennen, wie sich Vorurteile einnisten, was es für Vorurteile gibt, wie wir ihrer Herr werden, beziehungsweise wie wir damit umgehen. Und da stoßen wir auf ein weltanschauliches Grundproblem: Entsprechend der Aufklärung und ihrer Überzeugung, dass Änderbarkeit möglich ist, setzen wir auf Bildung und Erziehung. Wohlgemerkt, ich meine damit nicht nur den kognitiven Bereich, aber es ist eine Grundannahme. Gäbe es die nicht, würden alle Informations-, Wissensvermittlungs- und Bildungsbemühungen absurd sein, und sie würden nicht unternommen werden müssen. Das ist ein Kernpunkt.

Das zweite: Wir unterscheiden nach der Art und nach der Stärke von Vorurteilen. Viele Forscher haben natürlich verschiedene Instrumentarien zur Messung von Vorurteilshaltungen und von Einstellungen geschaffen und geprüft, und wir haben erkannt, dass es sehr unterschiedliche, aber im Kern dann doch auf einen bestimmten Nenner zu bringende Einstellungen (attitudes) und Verhalten (behavior) gibt. Und dieser Kern ist die fixierte, unwillkürliche - also reflexive oder "automatisierte" - Zuschreibung von Gruppenmerkmalen auf einen Individualfall oder auf ein Subjekt, das als Objekt genommen wird, ohne Prüfung der empirischen Belege, also ohne Prüfung des eigentlichen Falles oder der eigentlichen Einstellung oder der eigentlichen Handlung.

Das finden Sie von Anthropologen, von Soziologen, von Ethnologen bestätigt, untersucht und angesetzt: Die Vorurteile gegen die Schwarzen, die Neger, die ja für viele Europäer und von Europa Ausgewanderte Untermenschen waren. Oder die Heiden, die noch keine Menschen waren, die erst durch die Taufe - wenn man sie überleben ließ - den menschlichen, den Humanstatus erlangen konnten. Sie alle geben davon Zeugnis, genauso wie in Europa gepflegte Vorurteile, deren prominentestes und tragischstes natürlich der Antisemitismus ist. Dabei gibt es ja viele unterschiedliche Richtungen mit verwegenen - nicht nur dummen -, sondern auch gefährlichen Vereinfachungen, wie es eben Vorurteilen eigen ist. Aber eben auch andere. Sie wissen ja aus der Völkerpsychologie die Zuschreibungen, die manchmal freundlich sind, aber genauso falsch werden können wie die negativen: die Polen sind ..., die Italiener sind..., die Türken sind usw. Und natürlich - tragischer Weise - die Juden sind... Und dann folgt es.

Die Lehre aus all dem ist: Es wird zynisch und es ist skandalös, eine Vorurteilseinstellung und ein Vorurteilsverhalten als negativ hinzustellen und ein anderes als zwar ungustiös aber hinnehmbar zu etikettieren. Das ist ein wichtiger Aspekt. Das zweite ist das historische Denken und die Gesellschaftsorganisation in der Gegenwart. Was heißt historisches Denken? Historisches Denken versteht Ereignisse als nicht isolierte, nicht unverbundene. Einem Semiotiker, Erkenntnistheoretiker, Philosoph oder überhaupt jemandem, der wach denkt, ist es wahrscheinlich relativ rasch klar. Denn Isoliertes - im Amerikanischen nennt man das "free floating" - wäre als Unverbundenes nicht kommunizierbar. Da brauche ich jetzt gar nicht auf die Sprachtheorie von Herder oder Humboldt hinweisen. Es zeigt sich auch in anderen Schulen. Das Phänomen der Sprache in der Semantik der Bedeutung liegt ja im Lokalisieren und im Verbinden des Lokalisierten im semantischen Feld, verbunden nach bestimmten Regeln. Die Bedeutung selber ist keine inhärente Zeichenqualität. Das heißt: Erst die Verbindung zu dem Vorher, erst die Verbindung zum Anderen macht es möglich, verständnisvoll - also Sinn erkennend - Bedeutung zu konstruieren, Bedeutung zu lesen, zu dechiffrieren, Bedeutung zu geben.

Wir sind wieder bei der Weltanschauung. Wenn Sie ein Essentialist sind und sagen, die Bedeutung ist gottgegeben - wer oder was immer das sei -, ist unveränderlich, ist einzig, dann entzieht sich das jedem kritischen oder wissenschaftlichen Denken. Es liegt jenseits, es ist ein Glaubenspartikel geworden. Wenn Sie das nicht unterschreiben und sagen: "Nein, das gerade zeichnet das kritische Denken aus und das ist ja auch eine der Quellen des Haupterfolges des europäischen Denkens, das die Welt, natürlich mit viel Negativem, erobert hat. Aber das war dieser Punkt, wodurch diese Sakralisierung, diese Herrschaft der Kirche, diese Anmaßung, dass das Oberste dieses ewig einzig Gültige sei, überwunden werden konnte. Das heißt paradoxer Weise: in der Relativierung lag nicht nur das Freiheitsmoment sondern das Fortschrittsmoment. Und so wie die Faschismen (Plural!) als Angstäußerung gegen die Moderne, gegen die Entzauberung - wie man gesagt hat - versucht haben, die Zeit hintanzuhalten (widersprüchlicher Weise oft unter dem Einsatz modernster technischer Mittel, das schließt sich nicht aus), sind heutige Versuche der Tabuisierung ähnlich rückwärts gewandt. Sie versuchen, den rationalen Diskurs zu stoppen, indem bestimmte Bedeutungsfelder praktisch auf Eis gelegt werden, isoliert werden, sodass die Verbindungen kappen. Und das ist bedauerlicher Weise natürlich bei den ganz prominenten Themen der Fall. Das betrifft Schuld und Verantwortung, das betrifft Geschichte, das betrifft das Kollektiv, das betrifft den Einzelnen, die Person. Und ich finde, dass dies nicht nur wissenschaftlich - sondern überhaupt und völlig zurückzuweisen ist.

Im Konflikt, den ich vorhin nannte, "Israel - Palästina und das Problem der Korrektheit" ist es jetzt so, dass Kritik an Israel oft - und ich habe tonnenweise Material und Belege dazu - nicht nur zurückgewiesen wird, was ich verstünde (jemand, der kritisiert wird, weist das zurück), aber es kommt natürlich darauf an, wie und mit welchen Folgen. Und da wirkt sich diese Phalanx von Deutungs-Vorgebern, Norm-Einfordern, Gleichschaltern, Denkverbote-Schreienden, Unterdrückern im Geistigen wie im Realen - wehe, wenn sie die Macht noch in anderen Ländern erreichen - ganz fatal aus. Weshalb? Ein kleines Beispiel: Sie machen eine Aussage zu einem Fall, Sie haben einen empirischen Beleg. Ihr Gegenüber sagt: "Das ist keine Aussage zu diesem Fall, das ist ähnlich einer Universalaussage zu einer Gegebenheit, einer Essenz, zu einem Zustand, stellvertretend für das Ganze." Sie wissen natürlich - das Verdikt von Adorno -, "das Ganze ist das Falsche", und haben nicht das Ganze gemeint, Sie differenzieren, Sie gehen auf den Fall zurück und sagen: "Nein!" Und plötzlich wird es eine Machtfrage der Diskursregel. Wer bestimmt, was was ist?! Sie sagen: "Moment, so leicht geht das nicht. Das kann man ja sprachwissenschaftlich semiotisch untersuchen. Dieser Proportionalsatz ist gebildet aus ..., meint das, referiert auf jenes." Das heißt, im Zeichengebrauch haben wir verschiedene Ebenen der Denotation und einen Bezug zum Referenten, allerdings mit mehreren Konnotationsfeldern. Aber es ist nachweisbar, was das Objekt oder der Referent - also der Bezug zum Realobjekt, zum Sachverhalt, zum Subjekt als Objekt - ist oder fungiert. Wenn ich das kappe und diesen Diskurs enthebe, wird es natürlich möglich zu sagen: "Nein, das ist nicht eine solche Aussage, das ist im schwachen Fall ein Stereotyp, im harschen Fall ein Vorurteil, im speziellen Fall Antisemitismus, als das prominenteste und schlimmste Vorurteil. Was machen Sie dann? Je nach dem Kontextfaktor - und in unseren Ländern mit dieser traurigen Geschichte natürlich besonders wirksam (Deutschland, Österreich) - sind Sie fast erledigt. Beispiele, wie Walser und Grass usw. geben in Deutschland davon Zeugnis. Zwei andere Beispiele - nicht aus diesen Ländern, sondern aus zwei anderen -, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass ich mich auf das Hiesige kapriziere, mögen dies verdeutlichen. Indymedia, eine Online-Internet-Website-Organisation hat in ihrer Unterorganisation in der Schweiz nach ihrem sehr anarchistisch freien Medienverständnis Inhalte ins Internet gestellt (2), respektive hineinstellen lassen, die von einigen als antisemitisch reklamiert wurden. Ich habe mir das angesehen. In einigen Fällen war es zumindest fraglich. Dann kam es zu einen Prozess, den Indymedia letztlich gewonnen hat. Sie sind einstweilen vom Netz gegangen und versuchen jetzt, wieder hineinzukommen. Die Anklage, eine Karikatur sei antisemitisch, wurden vom Richter zurückgewiesen. Und die anderen Texte haben den Grad von straffälligem Antisemitismus auch nicht erreicht. Das war also eine schweizerische Rechtssache. Über den Erfolg war niemand froh. Ich habe mir die Dokumentationen aus dem Netz geholt. Und was interessant war, ist weniger der Fall, vielmehr die Argumentation, die eine der klagenden Parteien dargebracht hat: Was wir verstehen, was antisemitisch sei. Das ist nämlich so ein Angelpunkt. Was ist jetzt antisemitisch? Ich gebe Ihnen einige Beispiele.

Unter antisemitischen Tendenzen verstehen wir unter anderen:

"Die Verwendung von antisemitischen Stereotypen."
Das ist verständlich.

"Jede Leugnung und Relativierung des Holocaust."
Relativierung? Wann setzt sie ein? Ich habe gerade vorhin gesagt, dass Sie, wenn Sie wissenschaftlich denken, um eine Relativierung gar nicht herumkommen. Wie kann ich also Historiker sein oder aufrecht Denkender sein, wenn ich nicht relativieren darf? Ist Relativieren gleich Absagen, Bagatellisieren, Abwerten? Was ist dies für ein Verständnis von Relativieren? Das heißt, hier fließt inhaltsbezogene moralische Deutung in ein Denken ein und bindet es. Mit der Freiheit der Wissenschaft ist es somit vorbei.

"Die Unterstellung einer kollektiven Verantwortung aller Juden für die Politik Israels."
Ich fände es dumm, wenn das einer machte. Leider findet es niemand dumm, wenn es die Gegenseiten machen, in Bezug auf Deutschland, Österreich, die Schweiz zum Beispiel.

"Kritik an Israel unter Verwendung von Analogien zum Nationalsozialismus."
Das ist antisemitisch? Sie dürfen Saddam Hussein einen Hitler nennen und werten damit Hitler ab, denn der hat ja doch Größeres im Negativen gemacht, und nicht einmal das darf man sagen. Man darf also nicht mehr vergleichen? Also, was darf man dann? Weshalb soll eine Analogie Israels zum Nationalsozialismus verboten sein? Weshalb nicht eine generelles Analogieverbot?

"Reduktion des Zionismus auf kolonialistische und unterdrückerische Ideologie."
Aber bitte, 1975 gab es eine UNO-Resolution, die befand, dass Zionismus rassistisch ist. War da die UNO rassistisch, antisemitisch? Das klingt jetzt polemisch, aber da liegt etwas dahinter. In den amerikanische Medien fand ich ähnliche Aussagen, die sagten: Allein das singling out of Israel-critisism ist antisemitisch. Wie Kritik aber ohne hervorzuheben oder zu fokussieren gestaltet sein soll, objektiv, neutral sein soll, ist mir unverständlich. Das gibt es nicht. Es gibt keine objektive Kritik. Kritik und Neutralität sind unvereinbar.

Ein Fall in Großbritannien. Ein sehr bekannter TV-Dokumentarist, John Pilger, ein Autor von Büchern, der Preise erhielt und der auch in den westlichen Medien gepriesen wurde für seine Dokumentationen (z. B. Kambodscha, dieses Unrechtsregime usw.), - sehr engagiert im Israel-Palästina-Konflikt - hatte die Courage, eine Dokumentation zu produzieren (3), der die Verbrechen der Israelis gegen die Palästinenser offen darlegt. Ein Tabubruch. Der Sender ITV strahlt aus, und nach der Sendung schreien sofort einige Vertreter jüdischer Organisationen in London. Der Chef nimmt den Film aus dem Programm, entschuldigt sich und beurteilt ihn als unhistorisch und verzerrt. Es gibt eine Debatte in einigen Zeitungen, die ich mir aus dem Internet geholt habe. Dabei habe ich gefunden, dass in Großbritannien, der Mutter der Demokratie und der Bürgerfreiheiten, schon seit längerer Zeit eine Verunglimpfung und Ahndung derjenigen, die die ungeschriebenen Gesetze politischer Korrektheit brechen, läuft. Die ehrwürdige BBC wurde des Antisemitismus in mehreren Fällen bezichtigt:"I am convinced the BBC has became the principal agent for reinfacting british society with the virus of antisemitism." (4) John Pilger antwortete selbst und entkräftete jeden der Anwürfe, er erhielt die zynische Antwort von einem Vertreter einer jüdischen Organisation, die da lautet: "Kommen Sie, Mister Pilger, Ihr Argument, dass Sie verfolgt werden, das stimmt nicht. Sie können ja kritisieren. Aber das, was Sie bringen, ist ja keine Kritik, das ist Verzerrung. Sie beschimpfen Israel ja nur." (5) So einfach. Ein berühmter Autor in einem großen Fernsehsender in Großbritannien! Es gilt nicht, was er sagt, weil das nicht als Kritik, sondern als Beschimpfung hingestellt wird. Also kann es auch kein Diskursverbot geben. Man darf alles. Selbst schuld, wenn man nicht "kritisiert", sondern schimpft. (6)

Die Kabelnetzwerke in Israel haben gedroht, sie schalten CNN aus ihren Verteilern, als Ted Turner - kein Feind Israels - es gewagt hatte, die israelische Politik zu verteilen und gewisse Aktionen mit faschistischen verglich. Das ist Antisemitismus, Mister Turner. Boykott! (7)

Ein dritter Fall: Harvard University. Lawrence H. Summers, der Präsident der Universität, steht auf und sagt am Campus: "Ich bin sehr besorgt über das Wiedererstarken des Antisemitismus an den amerikanischen Universitäten, vor allem auch hier in Harvard." (8) Wieso ist er so besorgt? Weil es von einigen Professoren und Studenten Rufe gab, die Finanzierungsabkommen mit Israel oder israelischen Wissenschaftseinrichtungen zu stoppen, als Protest gegen die israelische Politik. Das wurde jetzt nicht als politische Kritik, sondern als Antisemitismus verstanden. Dagegen haben sich Leute gewehrt. In den USA geht das noch, in Deutschland oder Österreich wäre das wahrscheinlich nicht mehr möglich gewesen.

Mit diesen drei Beispielen will ich zeigen, dass in der westlichen Welt, ähnlich wie in einigen fundamentalistischen islamischen Ländern oder Republiken, das Denken nicht frei ist und seine Äußerung schon gar nicht frei sind. Nur die Mittel der Reaktion als Aktion dagegen fallen derzeit noch unterschiedlich stark oder schwach (human) aus. Während die Professoren in Harvard noch kein Berufsverbot fürchten müssen, ist in anderen Ländern - gerade wenn es sich um Journalisten oder Filmemacher handelt - das Nichtaussenden oder die Vertragskürzung oder das Nichtbesprechen eines Buches einem Berufsverbot gleichkommend. Und ist der seelische Druck, den z.B. ein Martin Walser zu ertragen hatte, keine Sache einer Überlegung oder Bewertung? Und er ist nur ein prominentes Beispiel. Die vielen anderen Beispiele, die aufzählenswert wären, fallen öffentlich, also gesellschaftlich, nicht ins Gewicht, weil sie marginal sind und nicht die Publizität haben. Aber sie sind ein Beweis für eine Geisteshaltung, die vorgibt, für Menschliches, für Gerechtigkeit und Freiheit, für Menschenwürde einzutreten, insgesamt aber in Verfolgung dieser "politischen Korrektheit" das durchzudrücken versucht, was dieser Gesellschaftsverfassung und ihren Zielen, die unter anderem eben auch imperialistisch hegemoniale sind, entspricht. Der Skandal des Disrespekts vor dem anderen - und das ist ja ein Kern des inhumanen Verhaltens - äußert sich darin, dass das Opfer, das Leid dieser Person oder dieser Gruppe nicht gilt oder weniger als meines. Das ist der Ursprung und Nährboden inhumanen, verächtlichen Verhaltens, dem ich mich empört entgegenstelle.

 

Anmerkungen:

1) Siehe NEUE RUNDSCHAU 1995/1: Neue Denkverbote - Vom Terror der Gutwilligen
2) http://www.indymedia.ch/mix/index.shtml Dokumente zur Affäre: http://www.akdh.ch/indymedia.htm, http://www.telepolis.de/deutsch/inhalt/te/13270/1.html
3) War of words continues over Middle East coverage. The Guardian, September 25, 2002
Massacre of the truth. John Pilger's TV programme on the Palestinians is symptomatic of a wider media bias against Israel. Stephen Pollard, The Guardian, September 24, 2002;
Why my film is under fire. The pro-Israel lobby intimidates journalists to ensure that most coverage remains biased in its favour. John Pilger, The Guardian, September 23, 2002
Carlton chief slams Pilger's attack on Israel, Leon Symons, The Guardian, September 20, 2002
TV chief attacks 'one-sided' Palestinian documentary. Talk: is Green right to criticise his programme makers? Stephen Bates, religious affairs correspondent, The Guardian, September 20, 2002;
Carlton swamped with calls over Pilger film, Jason Deans, The Guardian, September 20, 2002
TV boss 'irresponsible' says Pilger, Jason Deans, The Guardian, September 20, 2002
4) Douglas Davis, London correspondent of Jerusalem Post; BBC accused of anti-Semitism, Jessica Hodgson, The Guardian, May 23, 2002
5) Neville Nagler, Director general, Board of Deputies of British Jews, The Guardian, September 25, 2002
6) Ähnliches spielt sich auch im Bereich der Wissenschaften oder Philosophie ab, vor allem zwischen den so genannten Relativisten und Platonisten oder "foundationalists". "We so-called 'relativists' refuse, predictably, to admit that we are enemies of reason and common sense. We say that we are only criticizing some antiquated, specifically philosophical, dogmas. But, of course, what we call dogmas are exactly what our opponents call common sense." Richard Rorty "Relativism: Finding and Making"; in: Rorty: Philosophy and Social Hope. London 1999. Rorty's Sicht und Argumente können bzw. sollen auch für diesen Konflikt hergenommen und übertragen werden.
7) BBC accused of anti-Semitism. Jessica Hodgson, The Guardian, May 23, 2002; BBC and CNN gain Israeli reprieve. Owen Gibson, The Guardian, June 24, 2002
8) Lawrence H. Summers: Address at morning prayers, Memorial Church, Cambridge, Massachusetts, September 17, 2002; Harvard President Sees Rise in Anti-Semitism on Campus. By Karen W. Arenson, New York Times, September 21, 2002

Der voranstehende Text ist die unwesentlich redigierte Fassung eines Vortrages, den Dr. Handl auf Einladung der GÖAB am 24.10.2002 in Wien gehalten hat.
Veröffentlicht in: Materialien, Heft 42/Jänner 2003, Gesellschaft für österreichisch-Arabische Beziehungen, Wien