Haimo L. Handl

Distanzlosigkeit durch Neue Medien

Medien als Extension der Sinne, das war die Auffassung von Theoretikern wie Marshall McLuhan in den Sechzigerjahren. Seither hat sich ungeheuer viel getan und nicht nur die Medi­enlandschaft hat sich drastisch verändert. Im Sinne des damaligen Optimismus? Postmoderne Kritiker der "simulierenden Vernunft" meinen, wir hätten einen Zustand erreicht, in wel­chem wir nur noch "so tun, als ob", in welchem die Zeichen und die Ideen, für welche die Zeichen stehen, ihre Substanz verloren haben, wo wir es mit freischwebenden Werten zu tun haben, Simulationen.

Ohne die Simulationsthese weiter bemühen zu wollen, soll ein Blick auf die Gegenwart das Medienszenario kurz umreißen. Die gerade zu Ende gegangene 39. Internationale Funkausstellung Berlin führte wieder vor Augen, wo wir bzw. die Industrie stehen, welche Bemühungen unternommen werden, trotz gewisser Marktsättigungen und fehlender Innovationsschübe (so eine Neuerung wie letzthin mit der Compact Disc ist gegenwärtig nicht zu vermelden), wenigstens mit Verfeinerungen und den üblichen Steigerungen in Kapazität und Geschwindigkeit neue Käuferschichten zu gewinnen bzw. erweiterte Absätze tätigen zu können.

Neben diesen beiden Schlüsselmomenten, Geschwindigkeit und Kapazität, tritt immer stärker die Möglichkeit der jeder­zeitigen Erreichbarkeit ins Feld: der alte Wunsch, jederzeit von überall mit jemanden in Kontakt treten zu können, wird leichter realisierbar. Und es war nicht zuletzt der Golfkrieg, der, weil er kein Medienkrieg war, gewissen Kommunikationsme­dien wie zB Satellitentelefon zu solcher Bedeutsamkeit und Be­kanntheit verhalf, daß nun auch Normalbürger und nicht nur Me­dienanstalten solche Instrumente erwerben können. Der Manager kann aus der Wüste telefonieren und faxen, er kann seine Bil­der von überall her übermitteln.

Ein paar Zahlen mögen die Größenordnungen in bestimmten Medi­enbereichen illustrieren: Weltweit versorgen ca. 30.000 Hörfunk- und 3.000 TV-Kanäle die Seher, 500 Satelliten vermit­teln global Daten. In mehr als 6.000 Datenbänken sind riesige In­formationsstände abrufbar und die Vernetzung steigt täglich. Daneben existieren aber noch mehr als 300.000 Zeitungen und Zeitschriften und die Buchproduktion ist trotz gegenteiliger Warnungen, die AV- und Computermedien werden diese altmodi­schen Vehikel unserer Wissens- und Informationsproduktion zu­rückdrängen, nicht im Abnehmen; die Bibliotheken haben einfach keinen Platz mehr, geschweige denn die Mittel, die Flut zu sammeln und verfügbar zu halten. Sogar die bekanntesten Groß­bibliotheken haben schon lange die Illusion der Vollständig­keit der Sammlungen aufgegeben.

Im Wissenschaftsbereich wächst die Informationsmenge so rasant, daß man nicht einmal mehr in einzelnen Fachbereichen den Überblick halten kann; der Einzel­ne ist ohnmächtig, zB die jährlichen 600.000 Fachbeiträge (Dissertationen, Artikel, Berichte) nur aus dem Gebiet der Chemie zu überschauen. Ähnlich liegt der Fall in den anderen Naturwissenschaften. Dagegen nehmen sich zB die Zahlen der xfach wiederholten Arbeiten über Shakespeares Dramen oder sonst einer abendländi­schen Größe bescheiden aus, obwohl auch hier, wie generell, gilt, daß die Menge an Informationen nicht mehr aufnehmbar ist, daß krude Vorselektionen die eigentliche Auswahl bestim­men müssen, daß es immer wichtiger wird zu ler­nen auszuschei­den, zu wählen. Je größer die Menge an Wissen und Information, auf die zurückgreifbar ist, desto relativier­ter der eigene Wissensstand, die eigene Informationsposition.

Das Überwältigende dämpft und erdrückt schier und hat für im­mer mehr Menschen, "User", einen gegenteiligen Effekt: anstatt Erleichterung und Beschleunigung der Kommunikation bzw. des Wissenserwerbs, steigert sich die Orientierungslosigkeit bzw. Hilflosigkeit im Umgang mit diesem Riesenangebot.

Die Entwicklungsintervalle haben sich im Kommunikationsbereich kontinuierlich verkürzt:

Ca. 50.000 Jahre  Sprache
5.000 Jahre Schrift
500 Jahre Buchdruck
100 Jahre Film
70 Jahre Fernsehen
55 Jahre Digitalrechner (K. Zuse)
47 Jahre elektronischer Computer (ENIAC)
31 Jahre Nachrichtensatellit (Telstar)
24 Jahre  Videorecorder
18 Jahre Mikro/Personal-Computer (Altair 8800)
16 Jahre Personal Computer (Apple II)
12 Jahre PC (IBM; Industriestandard)
1 Jahr 16-Megabit-Chips

           

Die Leistungsfähigkeit der Computer hat sich ebenfalls rasant gesteigert: der ENIAC erreichte knapp 0,005 Mips (Million in­structions per second), der schnellste Großcomputer in den Siebzigerjahren (als Stanley Kubricks 2001 mit seinem HAL die Computervision von damals popularisierte) schaffte bis zu 200 Mflops (Megaflops, Million floating point operations per se­cond). Die gegenwärtigen Supercomputer arbeiten im Gigaflop-Bereich; der Cray Y-MP/832 schafft zwei Gigaflops. Man muß sich das vorstellen: die Leistung des ENIAC aus dem Jahr 1946 vierhunderttausendmal stärker. Die Tagesleistung der Cray er­forderte zweieinhalb Millionen Jahre für einen Menschen!

Der tiefgehende Einfluß dieser Technologie auf die Gesell­schaften ist offensichtlich: die alten Konzepte souverä­ner Na­tionalstaaten müssen sich dem ebenso verändert anpassen, wie die Produktions- und Konsumtionsbereiche. Es verändern sich die Rollen in Beruf und Bildung und die Auswirkungen der Ver­änderung im Sozialbereich sind unabsehbar und Gegenstand hef­tiger Kontroversen.

Wir Menschen sind nicht einer objektiven, für alle gleichen Realität ausgesetzt. Wir bewegen uns in Realitäten, die wir konstruieren, gestalten. Die Art der Wahrnehmung ist bestim­mend für die Realitätskonstruktion. Obwohl es nicht eine fixe, objektive, für alle gleiche Realität gibt, ermöglicht die Ähn­lichkeit bzw. der hohe Grad an Übereinstimmung für gewöhn­lich Anpassung und Kommunikation. Kommunikationstechniken ver­ändern bestimmte Wahrnehmungs- bzw. Artikulationsweisen. Die Rolle und Funktion der Sprache war für eine Oralkultur eine andere als für Angehörige des 18. Jahrhunderts, als nicht nur der Buchdruck schon Tradition hatte, sondern die Aufklärung, durch bestimmte technische und gesellschaftliche Entwicklungen ge­fördert, Weltbilder auf ihre Art beeinflußte. Das Radio und Telefon wirkte sich auf Sprechweisen (Tempo, Wortwahl) ebenso aus, wie der Stummfilm von den Schauspielern eine andere Ge­stik verlangte als später der Tonfilm. Das Fernsehen, wel­ches in sein (damals kleines) Rechteck die Welt ins Zimmer holte, bedingte spezifische Aufnahmeweisen, die sich von der Kino­filmproduktion unterschieden (Bildeinstellungsgröße). Die Vi­deographik ermöglichte neue und andere Illusionsproduktionen (Animation, Trick) und die Koppelung von Computer und AV-Medi­en schafft überhaupt eine neue Situation, welche gegenwär­tig in der etwas naiven oder dümmlichen Hochpreisung und  Mythi­sierung der sogenannten interaktiven Medien ihre Spitze fin­det.

Sprech- und Leseverhalten haben sich verändert, ebenso das Hör- und Sehverhalten. Die Rezeption von Musik erfuhr eine Re­volution, vergleichbar dem Buchdruck, als die Tonträgerproduk­tion bessere Produkte massenweise herstellen konnte (längere Wiedergabezeit ermöglichte die Schallplattenaufnahme von Kon­zerten, die gesteigerte Tonqualität wirkte sich auf das Hör"vergnügen" aus). Die Herstellung von handlichen Geräten machte nicht nur die Fotografie zum Allerweltsmedium, sondern auch die Kassette. Dank der Miniatisierung konnte dem Bedürf­nis nach Mobilität und Verfügbarkeit Rechnung getragen werden.

Ähnlich der profunden Medienkritik von Karl Kraus visionierte schon früh der Intellektuelle Paul Valéry die Zukunft der Kul­tur und Kunst in einer Weise, die später in den scharfen Ana­lysen und Kritiken von Adorno (um nur einen prominenten Außen­seiter anzuführen) ihre Fortsetzung erfuhren. Valéry schrieb:1

"Man muß damit rechnen, daß so bedeutsame Neuerungen die ganze Technik der Künste umwandeln, damit auf den schöpferischen Vorgang selbst  wirken - so sehr, daß sie vielleicht in er­staunlicher Weise bestimmen könnten, was künftig unter Kunst zu verstehen sein wird. (...) Die Werke werden zu einer Art von Allgegenwärtigkeit gelangen. Auf unseren Anruf hin werden sie überall und zu jeder Zeit gehorsam gegenwärtig sein oder sich neu herstellen. Sie werden nicht mehr nur in sich selber da sein - sie alle werden dort sein, wo ein Jemand ist und ein geeignetes Gerät. Sie werden nur mehr etwas wie Quellen oder Wurzelstöcke sein, und ihre Gaben werden sich ungeschmälert überall einfinden oder neu befinden, wo man sie wird haben wollen. Wie das Wasser, wie das Gas, wie der elektrische Strom von weit her in unseren Wohnungen unsere Bedürfnisse befriedi­gen, ohne daß wir mehr dafür  aufzuwenden hätten als eine so gut wie nicht mehr meßbare Anstrengung, so werden wir mit Hör- und Schaubildern versorgt werden, die auf eine Winzigkeit von Gebärde, fast auf ein bloßen Zeichen hin entstehen und verge­hen. Wie wir gewohnt - wenn nicht gar abgerichtet - sind, ins Haus die Energie in verschiedenster Gestalt geliefert zu er­halten, so werden wir es ganz natürlich finden, dort jene sehr geschwinden Wechselbilder oder auch Schwingungen zu bekommen oder in Empfang zunehmen, aus denen unsere Sinnesorgane, die sie aufnehmen und zu Einheiten zusammenfassen, alles machen, was wir wissen." 

Das Moment der Allgegenwärtigkeit, der jederzeitigen Verfüg­barkeit und die zu erwartenden Veränderungen der Rezeption (bei Valéry besonders der Rolle der Künste) war also schon früh erkannt. Zu dieser Verfügbarkeit gesellt sich die gesteigerte Kapazität der Speicher- bzw. Trägermedien und die Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung bzw. der Übermittlung. Die Technisierung ist so erfolgreich, daß darüber der eigentliche Sinn und Zweck manchmal verloren zu gehen scheint, weil das Medium an­scheinend die Botschaft wurde, weil die Gratifikation, welche die Beherrschung der Medientechnik gewährt, leicht als Substi­tut für die Lust am anderen Denken oder Wissen zu wirken vermag.

Die Technisierung läßt unter dem Zeit- und Finanzdruck sowie der wirtschaftlichen und sozialen Konkurrenz oft die Frage oder das Wissen um das Wofür nicht mehr aufkommen. Es handelt sich um eine simple Grundfrage: Wofür welche Kommunikation? Kommunikation als Mittel (für einen anderen Zweck) oder als Ziel (Selbstzweck). Beide Kommunikationen sind legi­tim und gültig, doch sie erfüllen verschiedene Funktionen.

Es scheint, daß die Informations- und Kommunikationstechniken für viele diese Ausgangslage oder Grundfrage aus dem Blickfeld drängen. Eine Verwechslung oder Verwischung dieser Bereiche und Funktionen hat aber relevante Auswirkungen auf Wahrnehmung und Kommunikationsproduktion. Daß (naiver) Fortschrittsglaube sich mit unreflektierter Technikbegeisterung paart, hat Ge­schichte. Die Gegenwärtige Hausse der Begeisterung der neue­sten Medientechniken erscheint mir als Aufguß jener Haltung, die in den Fünfziger- und Sechzigerjahren des (Wieder)Aufbaus die technische Entwicklung als Errungenschaft sah und antizi­pierte und wofür im deutschen Sprachraum die Zeitschrift HOBBY als Synonym und Gradmesser eines beschränkten, fehlgeleiteten Verständnisses der Moderne und des Fortschritts gelten kann. Technik als Substitut für substantielles Denken. Nicht einmal als Philosophieersatz, weil das, was Philosophie wäre, nicht mehr nötig scheint in dieser paradoxerweise eindimensionalen Ausrichtung. Meine Bewertung und Interpretation bezieht sich generell auf unsere Gesellschaften und berücksichtigt margi­nale Oppositionen nicht; die fallen aber gesellschaftlich nicht ins Gewicht, weil der Gang der technischen Entwicklung durch "Minderheitenkritik" bzw. Verweigerung (Abstinenz) kei­nerlei Korrektur erfuhr.

Die eingangs dargelegten Leistungsausweise verschiedener Medi­en verführen leicht dazu, gar nicht mehr zu fragen, wer denn weshalb diese Mengen an Wissen und Information zu diesen Be­dingungen jederzeit und überall verfügbar haben soll. Umge­kehrt wird von der Grundannahme eines generellen Bedarfs, ei­ner Notwendigkeit und Forderung ausgegangen. Der auf Ver­schwendung ausgerichtete Kapitalismus triumphiert mit sei­ner Entwicklung: er offeriert nicht nur die Hardware, nicht nur die nötige Software, er generiert bzw. beeinflußt wesent­lich die Bedürfnishaltung, welche nach solchen Hard- und Software-Produkten verlangt, er schafft jene Bedingungen, die seinen Erfolg programmieren und erfüllen. Wir leben in der sich selbsterfüllenden Prophezeiung. Wer staunt, ist selber schuld.

Was die totalitären Systeme, weil geschlossene, hinsichtlich der einheitlichen Ausrichtung und Gleichschaltung nicht schafften, scheint das offene System des Kapitalismus, ähnlich der Utopie von Huxley (Brave New World), spielend umzusetzen: weil es sich um Pseudovielfalten und -freiheiten handelt, ist trotz simulierter Konkurrenz, Rivalität und Pluralismus eine Art von Gleichschaltung möglich, wie sie nie zuvor für so viele Menschen erreicht wurde. Man muß sich nur einige (Medien)Ereignisse der jüngsten Vergangenheit vor Augen füh­ren, um das Ausmaß der organisierten Dummheit dieser Gleich­schaltung einigermaßen abschätzen zu können: sei es im Sport, sei es im Unterhaltungsbereich.

Ganze Medienverbundsysteme bringen Massen verschiedener Gesellschaften dazu, sich gleich nach denselben Produkten gleichzeitig auszurichten, sie zu re­zipieren, ihre (mediale) Umwelt dergestalt ausrichten zu las­sen. Der letzte Film von Spielberg findet nicht nur Kinogeher im Westen, Osten, Norden und Süden, sondern bringt auch "seriöse" Zeitungen und Zeitschriften dazu, sich dieses Themas anzunehmen. Museen gra­ben die Saurier aus, Universitäten bie­ten Lehrgänge, Expeditionen werden gestartet - die (halbe) Welt scheint sich nach diesem Erfolgsprodukt und dem Anhang auszurichten. Das ist der Erfolg, der begeistert. Man braucht nicht viel Phan­tasie um sich vor­zustellen was geschieht, wenn so ein Unter­haltungsprodukt mit seinen Nach- und Nebenproduktionen ersetzt wird durch poli­tisch fragwürdige Inhalte, die direkt oder in­direkt über den Unterhaltungsaspekt hinaus auf Politik zielen, das heißt in so einem Falle, auf Einstimmung und schlußendlich Mitwirkung ne­gativer Verhaltensweisen (Abwehrhaltung, Feindbekämpfung, Krieg).

Daß die Technik und ihre Entwicklung nicht nur durch Kriege ihre stärksten Entwicklungsschübe erfuhr, sondern selbst auf Krieg drängte, überlegte Valéry schon nach dem Ersten Weltkrieg:2

"Sollte das Vergeuden nicht eine öffentliche und dauernde Not­wen­digkeit geworden sein? Vielleicht käme ein genügend ent­fernter  Beobachter beim Blick auf den Stand unserer Gesittung auf den Ge­danken, der Große Krieg sei nichts anderes gewesen, denn eine ver­hängnisvolle, gleichwohl jedoch unmittelbare und unausweichliche Folge der Entwicklung unserer Technik. Die Ausdehnung, die Dauer, das alles Durchdringende, ja auch das Entsetzliche dieses Krieges entsprachen der Größenordnung un­seres Vermögens, Kräfte zu ent­binden. Die Hilfsquellen und die Industrien, die wir im Frieden erschlossen hatten, gaben ihm sein Maß, und durch seine Größenord­nung war er von den Kriegen früherer Zeiten genauso verschieden, wie unsere technischen Mittel, unsere materiellen Hilfsquellen unser Überfluß es er­heischten. Doch lag der Unterschied nicht nur im Quantitati­ven: in der stofflichen Welt kann man ein Ding nicht vergrö­ßern, ohne daß nicht sehr bald Quantität in Qualität umschlüge".

Dieser Sätze sollte man sich erinnern oder bewußt sein, liest man postmoderne Autoren wie Paul Virilio oder Jean Bau­drillard. Die Fragen nach den Bedingungen, nach den Medien und den Rezeptionsakten selbst, müssen gestellt werden. Man darf auf sein Wissen um das Wie und Wofür nicht verzichten. Das "Wie", die Formen der Nutzung werden am raschesten erlernt, weil sie Grundbedingung des Zugangs, der Teilnahme sind. Aber die Kenntnis darf sich keinesfalls darauf beschränken.

Das Problem stellt sich nicht neu, es zeigt nur stark erweiterte, poten­zierte Auswirkungen. Aber schon früher bestand ein Unterschied zwischen Besitz oder formaler Zugreifbarkeit auf Bücher (stolzer Besitz einer Bibliothek) und der Art ihrer Nutzung (Prestige- oder Vorzeigeobjekt, Lektüre, Studium). Ein Buch erwerben hieß oder heißt noch nicht, es lesen; ein Buch lesen, heißt noch nicht, es verstehen. Immer bedarf es mehr, als des eigentlichen Kommunikationsaktes, weil Kommunikation nie auf sich selbst beschränkt ist. Um noch einmal Valéry anzuführen:3

"Welche Schande, zu schreiben, wenn man nicht weiß, was Spra­che, Wort, Metapher sind, Gedankengänge und Wechsel im Ton; wenn man die Struktur der zeitlichen Folge eines Werks und die Voraussetzungen für seinen Schluß nicht begreift, kaum das Warum kennt und schon gar nicht das Wie!"

Diese Wichtigkeit der Kenntnis des Wie und Warum, der Formen, betont auch der Soziologe Pierre Bourdieu:4

"Der Form eignet eine besondere Qualität. Kulturelle Beherr­schung ist immer auch Beherrschung der Formen. (...) In der Mehrzahl unserer alltäglichen Verhaltensweisen sind wir durch praktische Schemata geleitet, das heißt durch 'Prinzipien, die dem Handeln Ordnung auferlegen', durch Informationsschemata. Dies sind Klassifikationsprinzipien, Prinzipien der Hierarchi­sierung und Teilung und, in eins da­mit, der Weltsicht, kurz: alles das, was jedem von uns er­laubt, Dinge auseinanderzuhal­ten, die von anderen vermischt werden, eine Diacrisis zu voll­ziehen, ein Unterscheidungsurteil zu treffen. Wahrnehmung ist grundlegend diakritisch: sie trennt Form und Inhalt, Wichtiges und Unwichtiges, Zentrales und Peripheres, Aktuelles und Nichtaktuelles."

In dem Maße, wie die Unterscheidbarkeit nicht auf die Substan­zen, auf die Inhalte, welche von bestimmten Formen in­diziert werden, ausgedehnt werden kann, steigt die eingangs erwähnte Hilflosigkeit im Umgang mit der Wissens- oder Informations­fülle, wächst die Orientierungsschwäche und redu­ziert den Po­sitionsbezug, also die Urteilskraft oder -fähig­keit. Zum Aus­gleich vertraut man mehr, öfter und stärker den prefabrizier­ten Hinweisen, Antworten und  Bewertungen, womit natürlich die Abhängigkeit wächst bzw. die Gängelbarkeit, die Manipulierbar­keit. Deshalb ist das vordergründige Paradoxon, daß eine offe­ne Gesellschaft wie unsere doch so eine Gleichschaltung zu produzieren vermag, eben nur vordergründig. Wir neigen dazu, das zu verdrängen oder zu vergessen, was uns an Widersprüche oder Negatives erinnert und mahnt.

Die Idee des Fortschritts verträgt anscheinend keine radikale Kritik: sie wäre Beschrän­kung und Absage an den Glauben des schier al­les Machbaren. Of­fenheit und Zukunft wird mit Schrankenlosigkeit gleichgesetzt: der verabsolutierte Freiheitsbegriff, der nicht mehr nach dem Wofür und Wie der Freiheit fragt, weist jede Einschränkung als Angriff auf die Freiheit selbst zurück: so wird Beschränkung zur Untugend, zur Waffe, zur Zensur. Der Soziologe Richard Sennett bemerkte dazu in den Siebzigerjahren:5

"Wir leugnen auch, daß der Kommunikation zwischen den Menschen irgendwelche Schranken gesetzt werden sollten. Die Kommunika­tionstechnologie des 20. Jahrhunderts zielt in ihrer Gesamt­heit auf diese schrankenlose Ausdrucksoffenheit. Nichts ist uns teurer als die Mittel zur Erleichterung der Kommunikation. Aber dann sind wir plötzlich überrascht, daß die 'Medien' bei den Zuschauern eine immense Passivität erzeu­gen. Wir sind überrascht, daß Persönlichkeit immer mehr zu ei­ner Sache des äußeren Anscheins wird, zumal im politischen Leben. Wir stel­len keinen Zusammenhang zwischen unserem Glauben an die abso­lute Kommunikation und der Schreckenswelt der Massenmedien her, weil wir jene Wahrheit leugnen, die ein­mal Grundlage öf­fentlicher Kultur war: Aktiver Ausdruck erfor­dert menschliche Bemühung, und diesem Bemühen ist nur so weit Erfolg beschie­den, wie es den Menschen gelingt, dem, was sie äußern, Grenzen zu ziehen."

Mit diesem Zitat, das hervorragend zu ergänzen wäre mit der Bemerkung Adornos über die "liberale Fiktion der beliebigen, allgemeinen Kommunizierbarkeit eines jeden Gedankens"6, kommen wir schon näher zum eigentlichen Problemkern, den ich reflektieren möchte: Distanz und Grenze bzw. Ihr Gegenteil.

Die Leichtigkeit, mit welcher die Neuen Medien produziert und rezipiert werden können, die Verfügbarkeit durch wachsende Vernetzung, kann den unkritischen Teilnehmer leicht in der Il­lusion wiegen, daß die Welt tatsächlich zum globalen Dorf wurde, wie es McLuhan meinte vorauszusehen. Die hohe Geschwindigkeit, mit welcher in den Vernetzungen Daten ausge­tauscht werden können, mittels der lokal Daten generiert oder verarbeitet werden, scheint die alten Grenzen aufzuheben, schafft eine neue Nähe.

Zwar war Fernsehen immer schon Nahsehen und nur Naive meinten, in die Ferne zu schauen. Die Faszina­tion rührte vor allem vom Umstand her, daß die Ferne herge­bracht wurde in den eigenen, vor allem privaten, Lebensraum. Dazu stellte sich als weiteres Faszinosum das Moment der Gleichzeitigkeit, was bei den so beliebten Live-Sendungen zum Tragen kam und die Illusion des Dabeiseins nährte. Das Fernse­hen veränderte die Qualität der Öffentlichkeit in einer unvor­hergesehen Weise. Diese Veränderung wird dramatisch fortge­setzt von den Neuen Medien, insbesondere im Bereich der Computernutzung.

Die Zuordenbarkeit von Bekanntem und Fremden, von Nahem und Fernem, von Wichtigem und Unwichtigen nivelliert sich entspre­chend der Medienauswahl, der Zugreifbarkeit, den Offerten.

Die Realitäten schrumpfen zur standardisierten, kal­kulierten, überschaubaren, manipulierbaren Realität des globa­len Dorfes, in welchem es keine Überraschungen mehr gibt. Dies hat natür­lich Auswirkungen auf das Verständnis von Individua­lität, dem Selbst gegenüber dem Anderen, den Fremden, die nur mehr in be­stimmten Aspekten fremd sind, denen man aber durch eine fal­sche, oberflächliche Toleranz ihre Eigenheit nimmt, sie an­gleicht und gleichschaltet dem vorgefaßten Bild, der or­gani­sierten Struktur. Was diesen Normen nicht entspricht, kommt erst gar nicht ins Gesichtsfeld oder fällt aus dem Bild bzw. es gibt keine Begriffe dafür: In vielen Fällen ist nicht ein­mal eine Exkommunikation nötig, weil der Eingang in den Kommunikationskreislauf ver­hindert worden ist.

Diese Art Nähe, diese umfassende Ge­meinsamkeit, verdeckt genuine Eigenheiten und Unterschiede. Zur Realität wird, was das konstruierte Bild zeigt, was der gene­rierte Satz sagt.

In dem Maße, wie der Bereich des Privaten steigt und mit ihm die Sicht der Nähe, verliert die Idee auf­klärerischer Toleranz an Bedeutung. Distanzlosigkeit bzw. ver­ringerte Distanz verhindert aber Überblick und begün­stigt Ter­ror, ja ebnet ihm den Weg. Ein Satz von Adorno faßt dies kon­zise zusammen:7

"Die Entfremdung erweist sich an den Menschen gerade daran, daß die Distanzen fortfallen. Das di­rekte Wort, das ohne Weigerungen, ohne Zögern, ohne Reflexion dem andern die Sache ins Gesicht sagt, hat bereits Form und Klang des Kommandos."

Der Angepaßte, heute nennt man ihn den "politically correct one", wehrt sich gegen jene Häretiker, Abtrünnige, Stö­renfriede, die Widerstand leisten, die sich querlegen, die jenseits der genehmigten Spielfelder Kritik üben oder radikal das System in Frage stellen. Das geleitete, zweckge­richtete Denken schult sich, animiert von raffinierten Gratifikationen und verrin­gert die Möglichkeiten "eigenen" Denkens. Das Abenteuer Denken verkommt zur Erfüllung vorgege­bener Programme. Das Vertraute wird affirmiert, stärkt im Wechselbezug das eigene System, wel­ches zudem als global, weltumfassend verstanden wird und hält somit Zweifel als Nährboden für neugierige, systemkritische Fragen fern.

Daß diese konstruierte Vertrautheit eine des Kon­sums, des Kommerzes ist, fällt nicht auf oder wird hingenom­men. Daß die gesteigerte Mediennutzung nicht einhergeht mit einer Qualitätssteigerung persönlicher Kommunikation, wird ba­gatel­lisiert. Der ebenfalls von Adorno in seiner Minima Mora­lia festgehaltene Satz notiert kühl: "Der Gedanke, der Autono­mie verlor, getraut sich nicht mehr, Wirkliches um seiner selbst willen in Freiheit zu begreifen."8

Damit verliert aber der Gleichgeschaltete weit mehr. In der Übernahme der Normen bis hin in den Urteilsbereich verkümmert der letzte Rest für mögliche Opposition. Hier trifft sich die Negativutopie von Orwell mit der von Huxley: Es bedarf gar nicht mehr des Großen Bruders und seiner doch schwerfälligen Manipulationen.

Das Internalisieren der Normen, der Standardisierungen, wel­che so vernünftig erscheinen und durch Wirtschaftserfolge und techni­schen Fortschritt kurzfristig Gratifikationen offerieren, funk­tionieren wie ein sensibles Gewissen, das selektiert und zensiert. Nur in Ausnahmefällen kann da noch bislang Ungedach­tes, soweit es außerhalb der Normen liegt und "gefährlich" scheint, gedacht werden.

Nicht nur auf die Kunst ist die Erkenntnis anzuwenden, die Adorno in seiner Parva Aesthetica ausdrückte:9

"In den Normen und Leitbildern, die fix und unverrückbar den Menschen zur Orientierung einer geistigen Produktion, deren innerstes Prinzip doch Freiheit ist, verhelfen sollten, spie­gelt sich bloß die Schwäche ihres Ichs gegenüber Verhältnis­sen, über die sie nichts zu vermögen meinen, und die blinde Macht des nun einmal so Seienden."

Die Neuen Medien kommen mehr noch als der Vorläufer Fernsehen dem Bedürfnis nach jederzeitiger Verfügbarkeit entgegen. In ihm erfüllt sich sozusagen eine infantile Regression, die umso erfolgreicher ist, als die gesellschaftlichen Bedingungen ei­nen Realitätsdruck schaffen, der betäubt, dem die meisten nur noch durch Flucht in eben die offerierten Medien standzuhalten vermögen. Fernsehen und Neue Medien können als Filter gesehen werden, der den Massen gestattet, überhaupt zu überleben, durchzukommen in einer Art, die sie (noch) sinnvoll finden, obzwar der Sinn selbst nicht hinterfragt wird. Auch dazu finden sich bei Adorno in seiner Es­saysammlung "Eingriffe" scharfe analytische Sätze:10

"Die bedrohlich erkaltete Welt kommt zutraulich zu ihm, als wäre sie ihm auf den Leib geschrieben: er verachtet sich in ihr. Distanzlosigkeit, die Parodie auf Brüderlichkeit und So­lidarität, hat dem neuen Medium sicherlich zu seiner unbe­schreiblichen Popularität mitverholfen. (...) Die Grenze zwi­schen Realität und Gebilde wird für das Bewußtsein herabgemin­dert."

Der Gratifikationsaspekt, die scheinbare Erfüllung des Wieder­holungswunsches beschreibt Adorno so:11

"Dem Ziel, die gesamte sinnliche Welt in einem alle Organe er­reichenden Abbild noch einmal zu haben, dem traumlosen Traum, nähert man sich durchs Fernsehen und vermag zugleich ins Du­plikat der Welt unauffällig einzuschmuggeln, was immer man für der realen zuträglich hält. Die Lücke, welche der Privatexi­stenz vor der Kulturindustrie noch geblieben war, so­lange diese die Dimension des Sichtbaren nicht allgegenwärtig be­herrschte, wird verstopft."

Was Adorno schon in den frühen Sechzigerjahren befand und vor­aussah, gilt heute mehr denn je. Interessant scheint mir die Überlegung des regretierten Wiederholungswunsches im Hinblick auf die Vergeudungs- und Verschwendungsproduktion unserer Pro­fitwirtschaft, welche in einem paradoxen Widerspruch zur Nichtfreizügigkeit, zur verkümmernden Kreativität der eigenen Ideenproduktion und ihres Austausches steht. Die Orientierung nach Wirtschaftsmaximen behindert den freien Diskurs. Die ängstliche Beobachtung aller Schutzmaßnahmen (copy rights), um ja nicht mögliche Einnahmequellen zu verlieren, um auf keinen Fall Konkurrenten mit Ideen zu einem Erfolg zu verhelfen, ist das Gegenteil von Freizügigkeit.

So finden sich in den Schwät­zerein der mail boxes wenig Neuigkeiten von Substanz. Nur in abgesteckten Bereichen, ähnlich der "Geschützten Werkstätten" oder unter kontrollierten Laborbedingungen, wird relativ frei Austausch, also Kommunikation gepflegt. Unser Gesellschaftssystem liefert die eigene verdeckte Grenze, welche um so effizienter funktioniert, als die Illusion allumfassender Nähe wirkt.

Es geht nicht um eine generelle Abschreibung der audiovisuellen bzw. Neuen Medien, sondern um das Bewußtmachen spezifischer Implikationen und Konsequenzen. Wenn es auch kein "richtiges Leben im falschen" gibt, ist doch der Weg zu einer menschenwürdigen Verbesserung unserer Gesellschaften zu beschreiten.

Damit die Einpassung nicht so friktionslos im Sinne der Profitwirtschaft erfolgreich geschieht, müssen die etwas altmodisch scheinenden Appelle für adäquate Distanz und Skepsis bzw. Kritik aufgegriffen und unterstützt werden. Insbesondere dem Bildungsbereich kommt da, auch gegen nichteingestandene Intentionen der Machteliten in unseren Staaten, eine Schlüsselrolle zu.

Anmerkungen:

1. Valéry, Paul: Über Kunst. Frankfurt, 1951:46f
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2. ders., S. 125

3. ders., Windstriche. Frankfurt 1969:166

4. Bourdieu, Pierre: Rede und Antwort. Frankfurt 1992:101

5. Sennett, Richard: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Frankfurt 1986: 332f

6. Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Frankfurt 1951:99

7. ders., S. 44

8. ders., S. 261

9. ders., Ohne Leitbild. Parva Aesthetica. Frankfurt 1967:14

10. ders., Eingriffe. Neun kritische Modelle. Frankfurt        1963:73

11. ders., S. 69

Publiziert in: TELL & CALL Zeitschrift für technologieunterstützten Unterricht 1993/4:4-10