FrontpageDossiersEnglish WindowNews TickerArchivServiceAnzeigenLeserdienstSuchenHilfeNZZ Sites1848-1998



Dienstag, 18. August 1998

Tagesausgabe | Monatsarchiv | Suchen in Tagesausgabe | Suchen im Monatsarchiv

PDF-Version | Postscript-Version | RTF-Version

NZZ Monatsarchiv

Neue Zürcher Zeitung POLITISCHE LITERATUR Donnerstag, 13.08.1998 Nr. 185  15

Staatsbürgerschaft und Globalisierung

Beiträge zur Diskussion um transnationale Rechte

    Der Hinweis darauf, dass die wirtschaftlichen Globalisierungstendenzen nationalstaatlicher Politik in immer stärkerem Masse Grenzen setzen, gehört heute zu den Gemeinplätzen in politischen Stellungnahmen und Kommentaren. Für die politische Philosophie wirft der Prozess noch weitergehende Fragen auf: Verschiedene ihrer Vertreter gehen davon aus, dass die Globalisierung - zusammen mit dem Ausbau supranationaler Institutionen und Abkommen - auch die Organisationsform und die Legitimationsprinzipien von nationalstaatlichen Demokratien tangiert, und ihr Anliegen ist es deshalb, neue Wege zu finden, wie angesichts dieser Veränderungen die Rechte des Bürgers und seine politische Mitbestimmung gesichert werden können. Zu einem der zentralen Begriffe dieser Diskussion ist heute im angelsächsischen Sprachraum derjenige der Citizenship geworden, welche mit «Staatsbürgerschaft» nur ungenau übersetzt werden kann, da es das englische Wort im Gegensatz zum deutschen erlaubt, über Demokratie und Bürgerrechte zu diskutieren, ohne diese a priori mit dem Nationalstaat in Verbindung zu bringen. Das von Heinz Kleger, Professor für politische Theorie in Potsdam, herausgegebene Buch «Transnationale Staatsbürgerschaft» gibt mit einer Folge von Aufsätzen einen Überblick über diese Debatte. Die Texte sind mit Ausnahme eines Beitrags über die Schweiz und eines zusammenfassenden Aufsatzes des Herausgebers in den letzten Jahren zumeist in englischsprachigen Spezialzeitschriften erschienen.

Der Nationalstaat als Garant

    Den Auftakt des Buches bildet ein 1974 erschienener Aufsatz Raymond Arons mit dem Titel «Kann es eine multinationale Staatsbürgerschaft geben?» Aron verneint die von ihm selbst gestellte Frage klar: Rechte können nur im Zusammenhang mit Pflichten existieren und verlangen nach einer Instanz, die über genügend Macht - das staatliche Gewaltmonopol - verfügt, um sie durchzusetzen. Deshalb bemerkt er zur Frage der Gültigkeit der Menschenrechte: «Die Juden meiner Generation können nicht vergessen, wie zerbrechlich diese Menschenrechte wurden, als sie nicht mehr mit den Bürgerrechten einhergingen», das heisst nicht mehr vom Nationalstaat garantiert wurden.

EU-Bürgerschaft mit ungewissen Folgen

    Die anschliessenden Aufsätze können als eine implizite (teilweise auch explizite) Auseinandersetzung mit der Position Arons - ein Vierteljahrhundert später - verstanden werden. Wie Kleger in seiner Einleitung anmerkt, wird diese Position heute vor allem durch zwei Prozesse in Frage gestellt. Erstens durch die europäische Einigungsbewegung: Der Maastrichter Vertrag vom 7. Februar 1992 hat die Unionsbürgerschaft geschaffen, welche den Bürgern eines Mitgliedstaates in dem Lande, in dem sie Wohnsitz haben, unter anderem das aktive und passive Wahlrecht auf kommunaler Ebene sowie in Wahlen zum Europäischen Parlament zugesteht. Sind in dieser Unionsbürgerschaft die Ansätze einer Alternative zur nationalen Staatsbürgerschaft angelegt?

    Elisabeth Meehan bejaht in ihrem Beitrag die Frage. Sie weist darauf hin, dass in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes Ansätze zur Entwicklung einer sozialen Staatsbürgerschaft zu finden seien. Die Unionsbürger verfügten auf EU-Ebene schon heute über gewisse Sozialrechte, die über diejenigen auf nationaler Ebene hinausgingen und gegenüber den einzelnen Mitgliedstaaten einklagbar seien. Andere Autoren sind vorsichtiger in ihrem Urteil: Carlos Closa, welcher eine genaue Untersuchung der europäischen Verträge auf ihre staatsbürgerlichen Elemente vorlegt, hält es für offen, ob die Unionsbürgerschaft in Zukunft eine wirkliche politische Bedeutung erlangen könne. Ebenso Ulrich K. Preuss, der indessen der Frage nachgeht, welche normativen Bestandteile die Unionsbürgerschaft im Falle einer Weiterentwicklung enthalten müsste. Gian Enrico Rusconi weist seinerseits darauf hin, dass die identitätsstiftende Integration, welche zur Kernfunktion eines Nationalstaates gehöre, von der Europäischen Union nicht geleistet werden könne, glaubt aber, dass die Europäische Union die Möglichkeit habe, sich zu «einer Schweiz kontinentalen Ausmasses» zu entwickeln.

Migranten relativieren Grenzen

    Als zweiten Prozess, welcher den Nationalstaat in Frage stellt, betrachtet der Herausgeber den Umstand, dass in vielen Ländern eine immer grössere Zahl von Migranten lebt, welche keine Staatsbürger sind. Die Hypothese ist wiederum Gegenstand einer Anzahl von Artikeln. In einem Beitrag, welcher die zentralen Thesen ihres Buches «Rethinking Migration: Ethnicity, Race and Nationalism in Transnational Perspective» übernimmt, gehen Nina Glick Schiller, Linda Basch und Cristina Blanc-Szanton davon aus, dass die Zahl von Individuen, welche zwei Gesellschaften gleichzeitig angehören und dank der Effizienz des modernen Transportwesens auch gleichzeitig in zwei Gesellschaften leben, steige. Dieser Prozess stelle nationale Grenzen zunehmend in Frage. Die Hypothese wird von Gianni d'Amato in einem Beitrag über italienische Migranten in der Schweiz übernommen, in welchem er zu zeigen versucht, wie die Anwesenheit dieser sowohl mit Italien wie mit der Schweiz verbundenen Personen die schweizerische Ausländerpolitik beeinflusst hat. Rey Koslowski und Marco Martiniello gehen in ihren Artikeln schliesslich der Frage nach, welche Folgen Migrationsprozesse innerhalb der EU haben werden. - In einem abschliessenden Kommentar gibt Heinz Kleger einen breiten Überblick über den Stand der Diskussion zum Thema transnationale Staatsbürgerschaft. Er versucht gleichzeitig, das Konzept gegen seine Kritiker zu verteidigen, indem er einerseits die Kapazität von Nationalstaaten, ihre aktuellen politischen Probleme zu lösen, als zu beschränkt beurteilt, andererseits auf Ansätze zu einer transnationalen Bürgergesellschaft hinweist, welche er beispielsweise in der Mobilisierung von Migranten für ihre Rechte innerhalb von Nationalstaaten oder im Kampf von international agierenden Organisationen - sowohl im Bereich der Ökologie wie der Menschenrechte - sieht. Die politisch-philosophische Diskussion um eine transnationale Staatsbürgerschaft, so konstatiert er, nehme diese Entwicklungen auf und versuche, in «theoretisch-experimenteller» wie auch «praktisch-politischer» Weise darauf Antworten zu finden. Inwiefern dieser Standpunkt als Gegenposition zu Arons historisch-skeptischer Haltung überzeugen kann, wird jeder Leser selbst beurteilen müssen. Sicher ist hingegen, dass der Band reiches Material bietet, um über Möglichkeiten und Grenzen transnationaler Staatsbürgerschaft nachzudenken.

Hans Mahnig

    Heinz Kleger (Hg.): Transnationale Staatsbürgerschaft. Campus-Verlag, Frankfurt/New York 1997. 335 S., Fr. 52.-.

Tagesausgabe | Monatsarchiv | Suchen in Tagesausgabe | Suchen im Monatsarchiv

Seitenanfang Frontpage
Impressum Webmaster Werbung

© AG für die Neue Zürcher Zeitung NZZ 1998