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Montag, 6. April 1998

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NZZ Monatsarchiv

Neue Zürcher Zeitung POLITISCHE LITERATUR Montag, 09.03.1998 Nr. 56  29

Mitverantwortung
in einer turbulenten Welt

Essays von Jacques Freymond

    «Der Zügellosigkeit der Globalisten muss ein Ende bereitet werden.» Mit dieser unmissverständlichen Aufforderung beschliesst Jacques Freymond, der langjährige Direktor des Genfer Institut universitaire de hautes études internationales, seine zeitgeschichtlichen Betrachtungen der internationalen Beziehungen. Seine Artikel umfassen eine Zeitspanne, die von den frühen vierziger Jahren bis 1997 reicht. Sie sind, trotz ihrer unterschiedlichen Thematik, Ausdruck eines unermüdlichen Wirkens für eine humanere Welt. Die Wertvorstellungen und Überzeugungen des Kosmopoliten Jacques Freymond haben ihre Wurzeln in seiner waadtländischen Heimat und seinem Schweizer Patriotismus.

    Die chronologische Anordnung der sechs ungleich langen Abschnitte des Bandes veranschaulicht bereits ein Grundanliegen des Autors: jede Lagebeurteilung, jede Entscheidung muss sich auf die historische Dynamik einer Langzeitentwicklung stützen. Es zeugt von Unkenntnis und Leichtfertigkeit, wenn man die Handlungen der vorangegangenen Generationen und Entscheidungsträger ohne eine gründliche Betrachtung der damaligen Zeitumstände beurteilt, wie dies allzu häufig geschieht. Sodann zieht sich die Sorge um die Gefährdung der modernen Gesellschaften wie ein roter Faden durch beinahe alle Beiträge. Es ist die Furcht vor ihrem Abgleiten in die Anarchie, ausgelöst durch die Auswüchse und die Beschleunigung der industriellen und technologischen Revolutionen. Diese konstante Präokkupation beruht auf dem Gefühl der Mitverantwortlichkeit, aber auch der Trauer und Frustration über die beschränkten Wirkungsmöglichkeiten.

    Das bedeutet kein Abrücken von der staatlichen, völkerrechtlich fundierten Neutralität der Schweiz. Letztere bedingt aber keineswegs eine moralische Neutralität ihrer Staatsbürger. Sie verpflichtet sie im Gegenteil zu grösserem humanitärem Einsatz, welcher seinen augenfälligsten Ausdruck im Internationalen Komitee vom Roten Kreuz gefunden hat. Jacques Freymond war lange Jahre dessen Mitglied. Als Vizepräsident des IKRK war er direkt an einer Operation im Zusammenhang mit der palästinensischen Geiselnahme in Zerqa 1970 verwickelt. Der Band enthält einen ausführlichen Bericht über diesen Einsatz - ein eindrückliches Beispiel der Funktion eines Historikers als Zeitzeuge. Ähnliches gilt - mutatis mutandis - für die Beiträge über die iranische Revolution und die Haltung des Westens beim Sturz des Schahs. Die Artikel sind in einem Abstand von sieben Jahren geschrieben und illustrieren den Unterschied zwischen einer zeitnahen, sozusagen generalstabsmässig angelegten Diagnose und einer mehr auf Quellen und Literatur abgestützten späteren Untersuchung. Beide Abhandlungen stellen jedoch klar die westliche Unfähigkeit, eine Globalstrategie zu entwickeln, heraus. Und dies gilt sowohl für die Vereinigten Staaten wie für Europa. Beiden werden Arroganz, Egozentrismus, Mangel an Interesse für den «Anderen» sowie eklatante Widersprüche zwischen Grundsatzerklärungen und Verhalten vorgeworfen.

    Mehrere Beiträge befassen sich, direkt und indirekt, mit Europa. Die durch die Maastrichter Verträge geschaffene Europäische Union stellt für den Verfasser ein monstre froid dar, unfähig, die europäische Vielfalt und ihr kulturelles Erbe zu bewahren. Nur ein föderalistisch verfasstes Europa, wie Denis de Rougemont es immer wieder gefordert hat, wäre dazu in der Lage. Angesichts der zahlreichen neuen Dimensionen, die sich in den internationalen Beziehungen öffnen, sollte die Schweiz nicht abseits stehen, in ihrem eingefleischten Pragmatismus verharren, sondern, neben einem verstärkten humanitären Einsatz, sich aktiv an der Debatte über die Möglichkeiten zur Gestaltung einer europäischen Konföderation beteiligen. Eine kühne Neugestaltung der Verhältnisse ist nur durch Kompassion, Mitmenschlichkeit und Autorität zu verwirklichen - die Eigenschaften, die Jacques Freymond sich zeitlebens als Maximen gesetzt hat.

Marlis Steinert

    Jacques Freymond: Le XXe siècle entre guerre et paix. Essais d'histoire des relations internationales contemporaines. Georg, Genf 1997. 265 S.

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