Anno Domini

FrontpageDossiersEnglish WindowNews TickerArchivServiceAnzeigenLeserdienstSuchenHilfeNZZ Sites1848-1998


Dossiers
Sisi und Diana
Der Kosovo-Konflikt

Montag, 7. Dezember 1998

Tagesausgabe | Monatsarchiv | Suchen in Tagesausgabe | Suchen im Monatsarchiv

 

PDF-Version | Postscript-Version | RTF-Version

NZZ Tagesausgabe

Neue Zürcher Zeitung POLITISCHE LITERATUR Montag, 07.12.1998 Nr. 284  29

Die Grenzen der Globalisierung

Lehren aus der Asienkrise

Die längerfristig wohl folgenschwerste Lektion der asiatischen Wirtschaftskrise dürfte in der Erkenntnis liegen, dass die Globalisierung der internationalen Finanzwelt Instrumente in die Hände gegeben hat, die sie nicht mit Verstand zu nutzen wusste. Weniger als zehn Jahre nach dem Zusammenbruch des Sowjetkommunismus und dem epochalen Triumph der liberalen Demokratie und Marktwirtschaft haben wieder die Advokaten von staatlichen Interventionen und Kontrollen Rückenwind. Vom Internationalen Währungsfonds und von der Weltbank erhält die chinesische Regierung Lob für ihre Währungs- und Wirtschaftspolitik, während Indonesien, das die von eben diesen Institutionen ausgestellten Rezepte zur Öffnung und Liberalisierung akzeptiert hatte, abgestraft wird. Bezeichnenderweise hat das für sein Verantwortungsbewusstsein gepriesene Peking stets dem im Zeichen der Globalisierung vorangetriebenen freien Kapitalverkehr und der freien Konvertibilität seiner Währung eine dezidierte Absage erteilt.

Die Vielfalt der Kulturen und Nationen

    John Grays Buch «False Dawn - The Delusions of Global Capitalism» wurde vor dem Ausbruch der Asienkrise geschrieben. Auch ist es aus der Perspektive einer tiefgreifenden Skepsis gegenüber der Marktwirtschaft verfasst. Dennoch ist die Lektüre für jene, die auch in diesen schwierigen Zeiten für die Zukunftsträchtigkeit einer freien Wirtschaftsordnung einstehen, von grossem Wert. Zum einen entwickelt Gray mit scharfem Verstand jene Argumente, die in den kommenden Jahren auf nationaler wie globaler Ebene mit neuer Energie gegen die Marktwirtschaft ins Feld geführt werden dürften. Zum andern lenkt Gray die Aufmerksamkeit auf mehrere kulturelle und nationale Faktoren, die im Überschwang der Globalisierung von vielen Politikern und Wirtschaftsführern vernachlässigt worden sind.

    Gray setzt sich ausführlich mit den angelsächsischen Wurzeln der Marktwirtschaft auseinander - mit einem Sachverhalt, der nicht nur von ordnungspolitischer, sondern eben auch von kultureller Bedeutung ist. Im Zusammenhang mit der Asienkrise ist viel von «crony capitalism» (Gefälligkeitskapitalismus) die Rede, wie er insbesondere in Suhartos Indonesien auf die Spitze getrieben worden war. Nachdem sich der Enthusiasmus über die «asiatischen Werte» zerschlagen hat, ist es nun üblich, die Wirtschaftskrisen der einst vielgepriesenen südost- und ostasiatischen «Tiger» damit zu erklären, dass in diesen Ländern ein deformierter Kapitalismus bestanden habe. Gray ruft demgegenüber in Erinnerung, dass ein Wirtschaftssystem nicht in der Retorte wächst, sondern aus dem je besonderen kulturellen und gesellschaftlichen Boden genährt wird. Eine Welt, in der alle Völker und Kulturen der angelsächsisch geprägten marktwirtschaftlichen Ordnung huldigen, wird es nie geben. Daraus folgt für Gray, dass «das Regelwerk, das es für eine wahrhaft globale Wirtschaft braucht, einen Modus vivendi zwischen den Arten von Kapitalismus, die stets voneinander verschieden bleiben werden, fördern muss».

Die Rolle des Staats

    Mit der Erkenntnis, dass Globalisierung «nicht die Übertragung westlicher Werte und Institutionen auf den Rest der Menschheit impliziert», geht für Gray der Schluss einher, dass es für ein «globales Laisser-faire» keine Zukunft geben kann. «Globales Laisser-faire ist eine Phase in der Geschichte der entstehenden Weltwirtschaft, nicht ihr Endpunkt.» Gray erinnert daran, dass bei Adam Smith dem Staat eine wichtige Rolle zukommt, insbesondere in seiner Funktion, Rechtsstaatlichkeit zu gewährleisten. Ohne diese lasse sich nicht von der allgemeinen Nützlichkeit von Marktmechanismen ausgehen. Auch der freie Markt bedürfe zu seiner Verwirklichung des Staates, da er in der Regel- und Gesetzlosigkeit nicht überdauern könne. Zu den Fundamenten des freien Markts gehört für Gray auch soziale Sicherheit, die es auch jenen ermögliche, ihn zu akzeptieren, denen das Schicksal nicht günstig gesinnt ist. Dies alles ist im nationalen Rahmen weitgehend selbstverständlich, gehört aber in der derzeitigen Umbruchphase der Weltwirtschaft zu den wichtigsten internationalen Herausforderungen.

Soziale Destabilisierung

    Gray sieht die Hauptgefahr einer Globalisierung, die bar jeder Regel vorangetrieben wird, in der Verunsicherung und sozialen wie politischen Destabilisierung eines immer grösseren Teils der Menschheit. Die «Reproletarisierung der Arbeiterschaft» und die «Debourgeoisierung der Mittelschichten», die Gray vor allem in den Vereinigten Staaten der späten achtziger und der neunziger Jahre ausmacht, findet in der Asienkrise ihre Entsprechung in den Millionen von Menschen, die in jüngster Zeit in den Schwellenländern wieder unter die Armutsgrenze gefallen sind, sowie in der Erosion der Mittelschichten, die sich in den langen Jahren soliden Wirtschaftswachstums in den asiatischen «Tiger»-Staaten gebildet hatten. Hier wachsen denn auch politische und soziale Herausforderungen heran, über deren Ausmass sich die meisten westlichen Kommentatoren der Asienkrise bisher noch kaum Gedanken machen.

    Grays Analyse ist scharf, seine Schlussfolgerungen sind jedoch unbefriedigend. Darin spiegelt sich zum einen die generelle Ratlosigkeit über die regulatorischen Implikationen der Globalisierung. Zum andern kommt aber auch Grays Befangenheit in einer allzu eindimensionalen Sicht der Marktwirtschaft zum Ausdruck. Insbesondere unterlässt es der Autor, Einblick in die Marktmechanismen zu geben, die wie beispielsweise die Stärkung des Welthandelssystems zu einer Überwindung der Globalisierungskrise beitragen können.

Urs Schoettli

    John Gray: False Dawn. The Delusions of Global Capitalism. Granta Books, London 1998. £ 17.99.

Tagesausgabe | Monatsarchiv | Suchen in Tagesausgabe | Suchen im Monatsarchiv

 

Seitenanfang Frontpage
Impressum Webmaster Werbung

© AG für die Neue Zürcher Zeitung NZZ 1998