Die neuen Gegner der Globalisierung
Neue Politik und die Lehren der grossen Depression
Von Harold James*
Die Globalisierung ist kein neues Phänomen. Bereits im 19. und im
frühen 20. Jahrhundert lassen sich ähnliche wirtschaftliche
Entwicklungen verfolgen. Vergleichbar sind auch die Gegenbewegungen.
Nach dem Ende des Kalten Krieges jedoch versprechen sowohl Sozialismus
wie auch Konservatismus keine Alternativen mehr. Nun führen
populistische Politiker, Vertreter des Konsumentenschutzes und
Wortführer einer neu entstandenen Antikorruptionsbewegung die Gegner
der Globalisierung an.
Das frühe 20. Jahrhundert war eine Zeit der Integration mit
ausgedehnten Güter-, Kapital- und Menschenströmen: Manches weist
tatsächlich darauf hin, besonders hinsichtlich der Integration des
Kapitalmarktes, dass die Wirtschaft damals mindestens so
«globalisiert» war, wie wir es ein Jahrhundert später erlebt haben.
Doch der Integrationsprozess wurde in der grossen Depression in einer
Reihe schlimmer Schocks umgedreht: Zollschutz, Ausbrüche ansteckender
finanzieller Panik, die sich von der Peripherie bis ins Zentrum des
weltweiten Finanzsystems ausbreiteten, und eine Wende zu
wirtschaftlichem Nationalismus und zu Autarkie.
Restriktive Wirtschaftspolitik
Viele der wirtschaftspolitischen Antworten der zwanziger und
dreissiger Jahre waren nicht grundlegend neu. Vielmehr waren sie
extremere Versionen von Ideen, die im 19. Jahrhundert als
Schutzschilde gegen die rauen Winde des internationalen Wettbewerbs
entwickelt worden waren. Zölle sollten denjenigen helfen, die von
«unfairer» Konkurrenz aus dem Ausland bedroht waren. Zentralbanken
wurden beauftragt, ordnungswidrige Kapitalflüsse zu lenken. Die
Migrationspolitik begann restriktiver zu werden, als einige der
grössten Einwanderungsländer immer selektiver bei der Aufnahme von
Immigranten wurden.
Da die Weltwirtschaft in der Folge des Ersten Weltkriegs wirrer und
bedrohlicher aussah als zuvor, erschienen solche Lösungen noch
attraktiver. Was vor 1914 als Sicherheitsnetz gegen übermässige
Globalisierung gedient hatte, wurde nach dem Weltkrieg zu gigantischen
Schlingen, die die Weltwirtschaft erwürgten. Kapitalkontrollen wurden
dazu benutzt, spekulative Börsenbewegungen zu bekämpfen, und neben den
Zöllen wurden noch Einfuhrkontingente verfügt.
Kann ein solcher Rückschlag gegen die Globalisierung wieder passieren?
Wir erleben gerade den Beginn einer antiglobalen Koalition, gestützt
auf Feindseligkeit gegenüber Einwanderern (aus Sorge um den
Arbeitsmarkt), den Glauben an Kapitalkontrollen (um Schocks zu
verhindern, die vom Finanzsektor ausgehen) und Skepsis in Bezug auf
den Welthandel. Niemand aber hat bisher überzeugend dargelegt, welchen
Sinn dieser antiglobale Zorn hat oder wie er bei der Formulierung
alternativer Strategien produktiv eingesetzt werden kann. Es gibt
keinen vernünftigen intellektuellen Zusammenhang, der die
unterschiedlichen Ausgangselemente des Unmuts verbindet. Er ist
inkohärent und verspielt und widerspiegelt einen fundamentalen
Richtungswechsel der Politik innerhalb kurzer Zeit.
Argument des «schädlichen» Wettbewerbs
Der politische Charakter der Welt im letzten Teil des 20. Jahrhunderts
hat sich in der Folge der Globalisierung verändert. Während des
Grossteils des Jahrhunderts lief die Politik in den meisten
fortgeschrittenen Industrieländern auf einen relativ einfachen
Verteilungskampf hinaus. Die Linke dachte an politische Massnahmen -
Besteuerung, Subventionen, staatliche Versicherungssysteme, Bildungs-
und Gesundheitsdienste -, die die Verteilung von Wohlstand und
Einkommen egalitärer machen und die Lebenschancen der Menschen
einander angleichen. Die Rechte dagegen wollte die Umverteilung
verhindern und damit so viel wie möglich von ihrem Besitzstand für
sich behalten. Die Voraussetzung beider Seiten beruhte auf dem Fehlen
grosser internationaler Bewegungen von Gütern, Kapital oder
Arbeitskräften. Die Umverteilung fand in einem entschieden nationalen
Kontext statt.
Bei grosser wirtschaftlicher Öffnung gelten jedoch diese
Voraussetzungen nicht mehr. Globale Ströme bedrohen die Erwartungen in
Bezug auf Einkommens- und Wohlstandsverteilung. Die Rechte sieht
nunmehr ihre Einnahmen durch die weltweite Konkurrenz geschmälert. Für
die Linke untergräbt die Mobilität von Arbeitskräften und Gütern die
Einkommen der weniger gut Ausgebildeten und der Unterprivilegierten.
Die Ära der Globalisierungs des späten 19. Jahrhunderts bietet eine
Parallele zu der Entwicklung unserer Zeit. Die von Landbesitz
getragene europäische Aristokratie wurde durch die Konkurrenz von
billigem Getreide und anderen auf dem Seeweg transportierten Waren
geschwächt. Landpreise und Pachteinnahmen sanken, und der Adel stand
vor dem wirtschaftlichen Niedergang. Die Aristokraten mobilisierten
oft Kleinfarmer sowie Handwerker und Kleinfabrikanten, die die
Überzeugung der Landelite teilten, der freie Wettbewerb sei schädlich
(was er für sie tatsächlich war). Für diese Gruppen lief die
Globalisierung auf eine unerfreuliche Art der Umverteilung hinaus.
Lähmung demokratischer Politik
Auf Seiten der Linken wollte eine wachsende industrielle
Arbeiterklasse politische Macht einsetzen, um die ökonomischen
Verhältnisse zu verändern: progressive Steuerpolitik zu fördern oder
die Anwendung von Zollschutzmassnahmen zur Wahrung der alten Ordnung
zu stoppen. In der politischen Mitte - die von den antiglobalen
Reaktionen von links und rechts zunehmend belagert wurde - sah eine
liberale Geschäftselite die Produkte der ökonomischen Öffnung oder
Globalisierung als durchaus nützlich an. Statt einer Zweiteilung
zwischen der Linken und der Rechten ergab sich eine Dreiteilung
zwischen globalisierungsfeindlichen Konservativen,
globalisierungsfreundlichen Liberalen und umverteilungsbemühten
Linken.
Wenn die äusseren Enden des politischen Spektrums radikal wurden, wie
es in der Zwischenkriegszeit der Fall war (die antiinternationale
Rechte wandte sich dem Faschismus zu, die Linke dem revolutionären
Kommunismus), ergab sich daraus häufig eine Lähmung der demokratischen
Politik. Zusammenhängende parlamentarische Mehrheiten konnte es nicht
mehr geben. Aber mit der Wirtschaftskrise Mitte des 20. Jahrhunderts,
die im Sog der grossen Depression die globale Integration zunichte
machte, setzte sich die Vorherrschaft des Nationalstaats wieder durch.
Nach dem Zusammenbruch des Welthandels und der Kapitalflüsse in der
Depression und bei der stark eingeschränkten internationalen Migration
ergaben sich diese Konflikte nicht mehr. Damit wurde die Politik viel
einfacher und erlaubte eine Stabilisierung demokratischer
Gewohnheiten.
Antiglobale Ressentiments
Mit der neuen Globalisierungswelle jedoch kehrt die alte
Dreifach-Polarisierung allmählich zurück. Wieder haben wir es mit
einer antiinternationalen Rechten zu tun, die nachgerade in allen
wichtigeren Industrieländern eine gewisse Rolle spielt und versucht,
die herrschende Prosperität und die Eigentumsrechte gegen die wilden
Launen des internationalen Marktes zu verteidigen. In den Vereinigten
Staaten verkörperte in den 1990er Jahren Patrick Buchanan den
protektionistischen Impuls in extremer Rechtsform und Ross Perrot in
einem neuen zentristisch-populistischen Stil. In Europa wird diese
Stimmung von einer Feindseligkeit gegenüber der EU kräftig angeheizt -
und von populistischen Politikern wie Jean-Marie Le Pen, Jörg Haider
und Christoph Blocher sowie Möchtegern-Populisten in der britischen
Konservativen Partei und bei den französischen Gaullisten unterstützt.
Der Wettkampf um die Führerschaft der britischen Konservativen
zwischen dem international orientierten Kenneth Clarke und dem
national orientierten Iain Duncan Smith spiegelte die neue Spaltung in
der Politik präzis wider.
Die protektionistischen antiglobalen Vorstösse der Linken sind in
politischen Parteien weniger sichtbar als in Gewerkschaftsbewegungen,
doch vermögen diese ihrerseits politische Programme zu formen. Für die
Gewerkschaften ist die neue Rechte eine Herausforderung. Für ihre
Mitglieder bedeutet der internationale Wettbewerb eine starke
Bedrohung, da Importe oder Immigranten die Löhne von wenig
ausgebildeten Arbeitern drücken könnten. Daher wird die Forderung nach
Ausschluss der Produkte des «unlauteren Wettbewerbs» an grosse
Mitte-Links-Parteien, wie die Sozialistische Partei Frankreichs oder
die US-Demokraten, weitergeleitet. Die Angst vor Lohnabbau wirkt auf
eine breitere Koalition hin, die sich auf gemeinsame antiglobale
Ressentiments gegen multinationale Aktiengesellschaften und
internationale Finanzinstitute stützt.
Die Profiteure machen misstrauisch
Im Zentrum der heutigen Globalisierung steht etwas ganz Ähnliches wie
zu Zeiten der gefährdeten liberalen Ordnung im Europa des späten
19. Jahrhunderts: die politische Bewegung einer Elite, die sich
hauptsächlich darum für die Globalisierung einsetzt, weil sie von ihr
profitiert. Es ist die Gruppe, die man zynisch mit dem Übernamen
«Davoser Mann» bedacht hat. Es ist kaum wahrscheinlich, dass deren
Programm - auf die Weise präsentiert, wie man sie zurzeit beobachten
kann - jemals bei den Wählern populär wird. Die Kosten der
Globalisierung und die Ressentiments, die sie hervorruft, sind allzu
augenfällig. Parteien, die sich auf simple Liberalisierung und Öffnung
festlegen, kommen selten über den Bereich von 5 bis 10 Prozent der
Wählerstimmen hinaus, den zum Beispiel die deutsche FDP anzieht. Als
Leszek Balcerowiczs Freiheitsunion in Polen 1997 in einer
Parlamentswahl 17 Prozent gewann, bedeutete dies einen verblüffenden
Erfolg. Die gegenwärtigen Meinungsumfragen weisen auf gerade noch 5
Prozent hin.
Die neue Politik hat ein weit verbreitetes Missbehagen geschaffen. Die
alten politischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts sind ziemlich
erschöpft: der klassische Konservatismus, weil die Welt sich zu
schnell verändert, als dass Konservatismus als «Stillstand» noch
verbindlich oder anziehend sein könnte, und der klassische
Sozialismus, weil das Tempo der Veränderung die traditionellen
Positionen der Arbeiterschaft erodiert. Der Bankrott dieser beiden
hoch angesehenen, aber heute recht aus der Mode gekommenen Richtungen
öffnet den Weg für einen neuen Populismus, der sich auf eine
Grundwelle der Antiglobalisierung stützt, nach innen schaut und die
Idee der Erneuerung der Nation als schützendes Bollwerk gegen fremde
Waren und fremde Einwanderer und fremdes Besitzrecht hätschelt. Die
populistischen Neufassungen stehen fundamental quer zu den
universellen Werten, die immerhin einen Kern der westlichen
politischen Traditionen bilden.
Die einzigen Alternativen, die vielleicht mehr Wählersympathie auf
sich ziehen könnten, sind Bewegungen gegen Korruption (eigentlich
gegen Amtsinhaber) und die Vertretung von Verbraucherinteressen. Die
Politik in fortgeschrittenen Industrieländern ist in der Ära nach dem
Kalten Krieg zunehmend auf dieses Themen-Zwillingspaar ausgerichtet,
das weder klassische Fragen der Umverteilung aufwirft noch den Vorgang
und Fortschritt der Globalisierung grundlegend in Frage stellt.
Die neue Politik des Negativismus
Manchmal wird behauptet, dieser Wandel sei einfach auf das Ende des
Kalten Krieges zurückzuführen, der, indem er für passende äussere
Feinde sorgte, die Politik an Ort eingefroren hielt. Diese These
stimmt insoweit, als kein anderes zwingendes und alles überspannendes
Thema den Kalten Krieg ersetzte. Danach, mehr oder weniger
gleichzeitig, fielen die italienischen Christdemokraten auseinander,
erlitt die britische Konservative Partei eine Serie von «Filz»-Fällen,
wetteiferten die Parteien Frankreichs im Enthüllen und Andeuten
bezüglich François Mitterrands Korruption einerseits und der Affären
von Jacques Chiracs Gaullisten andererseits, kamen die
Spendenpraktiken von Helmut Kohls «System» ans Licht und stolperte
Bill Clinton von einem Spenden- und Wahlkampffinanzierungsskandal zum
andern. Dass die regierenden US-Republikaner nun genau dieselben
Probleme erwarten werden, dürfte eine sichere Prognose sein.
Das Aufdecken von Korruption hat eine Politik des Negativismus mit
sich gebracht. Eine positivere moderne Richtung befasst sich mit dem
Schutz von Verbraucherinteressen: Einschränkung von Tabakwerbung,
Automobilsicherheit und - für Europa -, am wichtigsten,
Lebensmittelsicherheit angesichts einer Reihe von
Schreckensnachrichten über Seuchen und Infektionen. Manchmal werden
diese neuen politischen Anliegen an die Globalisierungsdebatte
angehängt: Lange Zeit bevor BSE ausbrach und dann die Maul- und
Klauenseuche auftrat, konzentrierte sich die europäische Obsession mit
Lebensmittelsicherheit auf die mutmasslichen (und unbewiesenen)
Gefahren von US-«Hormonfleisch» und dann auf die möglichen Gefahren
der Gentechnologie. Danach erschienen BSE und Maul- und Klauenseuche
als neue Fälle der Gefahren des Handels mit Nahrungsmitteln über
nationale Grenzen hinweg.
Modelle des antiglobalen Erfolgs
Die Geschichte des Seattle-Meetings der WTO von 1999 bietet auch eine
strenge Warnung. Auf dem Höhepunkt einer beispiellosen
wirtschaftlichen Expansion versuchte die eindeutige Vormacht in der
Weltwirtschaft, die USA, die Bewegung für Handelsliberalisierung
abzulenken, indem sie das Thema Arbeit und Umweltstandards vorantrieb.
Die Strategie liess viele Entwicklungsländer befürchten, die
protektionistische Rhetorik vom «unfairen Handel» halte wieder Einzug
und richte sich gegen sie. Da machten auch sie sich Sorgen über die
Globalisierung der Politik.
Gibt es ein Modell des antiglobalen Erfolgs? Gewisse Kommentatoren
sehen in Mahathirs Malaysia ein Land, das einen Weg für unorthodoxen
ökonomischen Erfolg aufzeigt, basierend auf staatlicher Lenkung,
Kapitalkontrollen und anti-amerikanischer Rhetorik. Mahathir ist
jedoch nicht so global verführerisch, wie Hitler und (insbesondere)
Stalin es in den dreissiger Jahren gewesen sind. Das Fehlen dieser
beiden Merkmale - des intellektuellen Kitts und des spezifischen
nationalen Erfolgsmodells - erklärt, weshalb das Pendel so langsam von
der Globalisierung zurückschwingt. Es erklärt nicht und kann nicht
erklären, warum es überhaupt nicht schwingen wird.
Die offensichtlich politischen Arten der Reaktion gegen die
Globalisierung, nämlich Faschismus, Stalinismus und deren
wirtschaftliche Manifestationen in gesteuertem Handel und
Planwirtschaft, sind für immer diskreditiert. Die französischen
Demonstranten gegen Seattle verwendeten den Ausdruck «souveranisme»
für die Verteidigung des Nationalstaates. Das ist jedoch eine
Verteidigung ohne jede logische Grundlage, die kaum attraktiv sein
dürfte. Nationale Souveränität ohne eine systematisch ausgearbeitete
ideologische Rechtfertigung und ohne jeden klaren Beleg oder Beweis
ihres Erfolges ist nichts weiter als eine leere Hülse.
Milde Protektion
Der Grund zu Optimismus beruht, vielleicht merkwürdigerweise, auf dem
Ausmass unserer Enttäuschung über die Institutionen, die nationalen
wie internationalen: Wir sind wenig geneigt, an magische Kugeln zu
glauben, die alles heilen. Wir sind infolgedessen auch mehr an
kleinere Teilerfolge oder -misserfolge gewöhnt. Aber unsere
Ernüchterung gegenüber jeder Politik erzeugt auch ihre eigenen
Probleme.
Das Hauptproblem der Wirtschaftspolitik liegt heute bei denen, die auf
die grosse Depression blicken und sich vorstellen, sie könnten etwas
lernen und die Politik einsetzen, um den Markt zu zähmen. Was dabei
herausschaut, ist milde Protektion: ein paar Einschränkungen im
Warenverkehr im Namen des Schutzes gegen «unfairen» Wettbewerb und
Ausbeutung der Arbeitenden oder kleine Restriktionen bei
Kapitalbewegungen (wie die «Tobin-Steuer») oder strengere
Einwanderungsgesetze. Damit richten sie genau das aus, was ihre
Vorläufer in den zwanziger Jahren ausgerichtet hatten: Und das war es
denn auch, was die wirkliche Katastrophe der dreissiger Jahre
auslöste. Unter solchen Bedingungen wird ein neuer fremdenfeindlicher
Populismus aufblühen, der genährt wird von einem mit Debatten um
Konsumentenschutz und Antikorruption gedüngten Boden.
* Harold James lehrt Geschichte an der Princeton University und ist
Gastprofessor an der Universität St. Gallen. Er ist Autor von «The End
of Globalization».
Neue Zürcher Zeitung, Ressort Zeitfragen, 8. September 2001, Nr.208, Seite 89