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Mittwoch, 15. April 1998

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NZZ Monatsarchiv

Neue Zürcher Zeitung POLITISCHE LITERATUR Dienstag, 07.04.1998 Nr. 81  49

Ärgernis Globalisierung

Kristallisationspunkte des Unbehagens

     Auf dem Büchermarkt wenden sich zahlreiche Publikationen an Leser, die beunruhigt sind wegen der Auswirkungen der Globalisierung auf die Gesellschaft. An einigen Beispielen sollen im folgenden die Hauptargumente in der Situationsanalyse und die Vorschläge an die Politik miteinander verglichen werden.

     

Sorge um die Arbeitsplätze

    Die bei weitem auflagenstärkste Publikation, «Die Globalisierungsfalle» der beiden «Spiegel»- Journalisten Hans-Peter Martin und Harald Schumann, beginnt mit der Schilderung eines Schockerlebnisses. Die beiden hatten 1995 in San Francisco an einem Prominentengipfel zur Zukunft der Menschheit im 21. Jahrhundert teilgenommen und waren mit dem Eindruck nach Hause zurückgekehrt, dass künftig nur noch ein Fünftel der verfügbaren Arbeitskraft benötigt werde. Die Produktivitätssteigerung pro Arbeitskraft werde, so nehmen sie an, in der Industrie und im Dienstleistungssektor die gleichen Folgen haben wie in der Landwirtschaft. In Deutschland beunruhigt sie neben der Wegrationalisierung von Arbeitsplätzen deren Auslagerung in Billiglohnländer. Wir erlebten eine Revolution der Arbeitswelt, seien unterwegs zu einer 20:80-Gesellschaft.

    Der Soziologe Ulrich Beck, bekannt geworden mit seiner «Risikogesellschaft», sieht alle nachindustriellen Länder auf dem Weg in einen Kapitalismus ohne Erwerbsarbeit. Er konstatiert eine skandalöse Massenarbeitslosigkeit: «Transnationale Unternehmen überbieten sich mit Rekordgewinnen - und dem massenhaften Abbau von Arbeitsplätzen.» Wenn Arbeit durch Wissen und Kapital ersetzt werde, so verlören die Arbeitskraft und die sie vertretenden Organisationen an Verhandlungsmacht und gesellschaftlichem Einfluss.

    Dieser Gedanke zieht sich als roter Faden durch das in mehr als ein Dutzend Fremdsprachen, einschliesslich Japanisch und Koreanisch, übersetzte Buch der französischen Publizistin Viviane Forrester. Es ist ein einziger sarkastischer Protest gegen eine angebliche neue Verelendung der Massen als Folge der Ausgrenzung aus der Arbeitswelt und gegen die Verlogenheit jener, die dies als vorübergehendes Phänomen abzutun versuchten. Sie will weder die Globalisierung stoppen noch die Marktwirtschaft abschaffen. Ihr geht es um die Zukunft des arbeitenden Menschen. Dieser erscheint in ihrer Optik als Opfer der unerbittlichen Logik, die heute durch Automatisierung und die globalen Finanzmärkte bestimmt wird. Die Spaltung der Gesellschaft in eine grosse Mehrheit, die in einem nicht definierten Elend leben muss, und eine kleine privilegierte Minderheit wird im mechanistischen Gesellschaftsverständnis der Verfasserin zum kollektiven Schicksal, vor dem es kein Entrinnen gibt. Das einzige, was aus dieser Sicht möglich bleibt, ist bewusstes und kritisches Wahrnehmen.

Anpassung oder Armut?

    Ungleich moderater, mit einer Zuversicht, die auch Zweckoptimismus zur Aufmunterung seiner Landsleute sein mag, äussert sich der deutsche Sozialdemokrat Klaus von Dohnanyi. Nach einer langen politischen Karriere - er war unter anderem Staatssekretär unter Karl Schiller, Bundesminister für Wissenschaft und Forschung sowie Staatsminister im Auswärtigen Amt - neigt er zu einer pragmatischen Haltung. Zwar beunruhigen auch ihn gefährliche Auswirkungen der Globalisierung auf Gesellschaft und Umwelt, aber er hält die Probleme für lösbar, sofern man nicht in rückwärts gewandtem Pessimismus verharrt, die der Natur des Menschen entsprechenden Gesetze des Marktes begreift und geschickt damit umzugehen versteht.

    Soweit sie sich zur Arbeitsplatzproblematik äussern, sind alle Autoren mehr oder weniger skeptisch gegenüber dem amerikanischen «Jobwunder». In den USA und in Grossbritannien bilden nach Beck jene, die in der Grauzone zwischen Arbeit und Nichtarbeit leben, längst die Mehrheit. Es gibt dort eine neue Schicht der «working poor», die laut Forrester deshalb rasch wächst, weil geringe soziale Unterstützungen arbeitslos gewordene Amerikaner rasch zur Annahme auch schlecht bezahlter Arbeit zwingen. In diesem Zusammenhang schreiben Martin und Schumann, in den USA verdienten vier Fünftel der männlichen Angestellten und Arbeiter pro Arbeitsstunde real elf Prozent weniger als 1973. Analoge Hinweise finden sich im Bericht der Gruppe von Lissabon, deren Spiritus rector der Ökonom Riccardo Petrella ist, Professor an der belgischen Universität Louvain und ehemaliger Direktor des Programms «Forecasting and Assessment in Science and Technology» der Europäischen Kommission. Laut diesem Bericht beruht der Sozialabbau auf der Überzeugung, «dass es um so besser um die Wettbewerbsfähigkeit und den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit steht, je stärker die Lohnkosten und die damit verbundenen Sozialabgaben gesenkt werden». - Dohnanyi bezeichnet das Entstehen einer Schicht von «working poor» als unvereinbar mit seinen Vorstellungen von einer sozialen Demokratie. Er ist zuversichtlich, dass sich das Arbeitslosenproblem entschärfen lässt. Einen entscheidenden Beitrag dazu sieht er darin, «dass wir die einfachen Tätigkeiten wieder bezahlbar und dies zugleich sozial vertretbar machen».

Kritik am absoluten Wettbewerbsdenken

    Die Mitglieder der Gruppe von Lissabon bekennen sich als überzeugte Befürworter liberaler Ordnungspolitik, wenden sich indessen gegen deren Entwicklung zu einer aggressiven Ideologie, «die alle anderen Formen der Organisation des wirtschaftlichen, politischen und sozialen Lebens ausschliesst». Ihren Verfechtern werfen sie «sektiererischen Fundamentalismus» vor, womit die gesamte conditio humana auf Einstellungen und Verhaltensnormen des «homo oeconomicus» als «homo competens» reduziert werde. «Für sie haben Erkenntnisse, Überzeugungen und Verhaltensweisen keinen Wert, sofern sie nicht der Wettbewerbsfähigkeit untergeordnet und von ihr legitimiert werden.» Beck wettert gegen das neoliberale Denkvirus des «Globalismus», der alle und alles, Politik, Wissenschaft und Kultur, dem Primat des Ökonomischen unterwerfen wolle. «Darin ähnelt der neoliberale Globalismus seinem Erzfeind: dem Marxismus.»

Schwächung der nationalen Demokratie?

    Die Wirtschaft globalisiert sich, während die Rahmenbedingungen noch weitgehend auf nationaler Gesetzgebung beruhen. Das hat, wie die meisten Autoren mehr oder weniger stark hervorheben, zur Folge, dass namentlich transnationale Gesellschaften (wovon es laut Martin und Schumann über 40 000 gibt) zunehmend frei sind, ihre Produktionsstandorte, ihre Märkte und ihre Steuerdomizile nach betriebswirtschaftlichen Kriterien auszuwählen - nach Kriterien somit, die zunehmend von der verschärften weltweiten Konkurrenz geprägt sind. Der Nationalstaat wird laut Martin und Schumann vom globalen Markt aus den Angeln gehoben. Auch Dohnanyi konstatiert, mit den nationalen marktbegrenzenden Systemen seien wichtige Elemente der sozialen und ökologischen Produktivität des bisherigen Ordnungssystems stumpf geworden. Diese Entwicklung scheint ihm gefährlich: «Ungezügelt würde der Markt zum Monster.»

    Während wirtschaftliche Akteure transnational denken und handeln, müssten - so ein Haupteinwand Becks - die Nationalstaaten die Folgen verkraften und mit einem wachsenden Steuertourismus rechnen, der dem Fiskus Milliardenverluste verursacht. Für sie sei der Steuerschwund eine «Krankheit zum Tode». Die Gruppe von Lissabon befürchtet, dass die Regierungen der Nationalstaaten ins Schlepptau der «global players» geraten, die den Gesetzen des naturgemäss kurzsichtigen Marktes unterliegen. Sie seien versucht, im Interesse der nationalen Wirtschaft fragwürdige, demokratisch nicht mehr legitimierte Konzessionen zu machen. Noch radikaler äussern sich Martin und Schumann: «Wenn Regierungen in allen existentiellen Zukunftsfragen nur noch auf die übermächtigen Sachzwänge der transnationalen Ökonomie verweisen, verliert der demokratische Staat seine Legitimation.»

Den Primat der Politik zurückgewinnen

    Ausser Forrester, die keinen Ausweg sieht, halten es alle Autoren nicht nur für notwendig, sondern auch für möglich, etwas gegen die unerwünschten Wirkungen der Globalisierung zu unternehmen. Beck hofft auf ein Europa, das imstande wäre, den Primat der Politik über die Wirtschaft wieder herzustellen. «Was Europa sein soll, ist im Blick auf die Zukunft politisch zu beantworten - in allen Themenfeldern: Arbeitsmarkt, Sozialstaat, internationale Migration, politische Freiheiten, Grundrechte.» Ein transnationales Staatengebilde in der Grösse der EU wäre in der Lage, die demokratisch kontrollierte gesellschafts- und wirtschaftspolitische Handlungsfähigkeit für kooperierende Staaten wiederherstellen. «Eine starke, demokratische EU könnte ihr Gewicht als grösste Handelsmacht der Welt für wirkliche Reformen einsetzen.»

    Auch Martin und Schumann stellen an die Spitze ihres Massnahmenkatalogs die Vision einer demokratisch legitimierten und handlungsfähigen Europäischen Union. Durch den Euro bekäme sie genügend Potenz, um auf Trockenlegung der Steueroasen zu drängen. Deshalb sollte in dieser Sicht die EU-Kompetenz auf die Besteuerung ausgedehnt werden mit dem Ziel, eine europaweit wirksame ökologische Steuerreform durchzuführen mit einer Luxussteuer und einer Umsatzsteuer auf dem Devisenhandel, einer sogenannten Tobin-Tax. Die Gruppe von Lissabon wünscht sich einen starken Staat, auch wenn dieser in einem globalisierten Umfeld nicht mehr als führende Kraft handeln kann. Seine Rolle bestehe heute darin, dafür zu sorgen, dass seine eigenen strategischen Schlüsselakteure die Globalisierung der eigenen «nationalen» Wirtschaft erfolgreich durchführen können - ein Postulat, das freilich in einem gewissen Widerspruch steht zur erwähnten Angst, dass der Nationalstaat in das Schlepptau der Multis geraten könnte.

Zukunft der sozialen Marktwirtschaft

    Für Dohnanyi sind die Vorstellungen von einer internationalen Marktordnung oder einer «sozialen Gegenmacht Europa» eine Illusion. Insbesondere sieht er keine Chance, die hohen deutschen sozialen Standards europaweit durchzusetzen, und Koordination der Wirtschaftspolitik ist für ihn eine Leerformel. Die Idee internationaler Vereinbarungen über soziale Mindeststandards im Wettbewerb erinnert ihn an Denkmuster des Sozialismus. Dohnanyi setzt für Deutschland (und damit indirekt auch für die Schweiz, deren wirtschafts- und sozialpolitische Lage er als sehr ähnlich beurteilt) auf die Weiterentwicklung der sozialen Marktwirtschaft - des «deutschen Modells», wie er sie nennt. Es gehe darum, dass die Marktwirtschaft in einer neuen Situation neue Antworten des Gleichgewichts zwischen sozialer Verantwortung und Wettbewerb finde und so den Sozialabbau vermeide. Zu einer möglichst sozialverträglichen Neuorientierung beitragen könnten etwa die differenzierte Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich oder die Beteiligung der Arbeitnehmer an gewinnsteigernden Massnahmen. Dem Staat weist Dohnanyi die Aufgabe zu, die Gesellschaft dezentral für mehr Eigenverantwortung zu organisieren, in der Hoffnung, dass sie wieder reaktionsfähiger wird. In Deutschland ginge es konkret um eine Neugestaltung des Föderalismus, um die Beseitigung übermässiger Entscheidungsverflechtung, die dem optimalen Funktionieren der dezentralen Verantwortung, des «Schlüssels zum Überleben», im Wege stehe.

    Aus einem anderen Blickwinkel beurteilt Beck das «deutsche Modell». Für ihn war der «sozial abgepufferte Kapitalismus» die erkämpfte Antwort auf die Erfahrung des Nationalsozialismus und die Herausforderung des Kommunismus. Nun erscheint das historische Bündnis zwischen Kapitalismus, Sozialstaat und Demokratie gefährdet. Auf der gleichen Linie argumentieren die Verfasser der «Globalisierungsfalle»: «Befreit von der Drohung der Diktatur des Proletariats, wird seither um so härter an der Errichtung der Diktatur des Weltmarktes gearbeitet. Plötzlich erscheint die massenhafte Teilnahme der Arbeitnehmer an der allgemeinen Wertschöpfung nur als ein Zugeständnis im kalten Krieg, das der kommunistischen Agitation die Basis entziehen sollte.»

Zivilgesellschaft als Machtfaktor?

    Nach Beck gibt es heute neben der Welt der Staaten eine Welt transnationaler Subpolitik, in der sich die unterschiedlichsten Akteure tummeln, neben transnationalen Organisationen wie der katholischen Kirche oder der Weltbank auch die multinationalen Konzerne, die Mafia und die neue Internationale der Nichtregierungsorganisationen (NGO). Auf dieser transnationalen Aktionsebene ortet die Gruppe von Lissabon eine «rapide wachsende Zivilgesellschaft», eine «komplizierte Galaxie, die sich aus Tausenden organisierter Gruppen zusammensetzt». Ihr wird grosse Bedeutung beigemessen in der Erwartung, dass sie die globalen Bedürfnisse, Wünsche und Ziele mitgestalten könnte und die «globale Nachfrage nach Sozialem» in Worte zu fassen vermöchte. Damit würde sie «zur Sprecherin der Weltbevölkerung für Fragen der menschlichen Entwicklung, Freiheit, Gleichheit, Frieden, Solidarität und Gerechtigkeit», angeführt von einer neuen Elite, die in diesem Prozess eine wichtige Rolle zu übernehmen hätte. Auf diesem gedanklichen Fundament wird der Abschluss von vier neuen Sozialverträgen gefordert, wozu Europa, Nordamerika und Japan die Initiative zu ergreifen hätten. Anvisiert sind ein «Grundbedürfnisvertrag» zur Beseitigung von Ungleichheiten, ein Kulturvertrag zur Förderung der Toleranz und des interkulturellen Dialogs, ein Demokratievertrag zur kooperativen globalen Steuerung und schliesslich ein Erdvertrag mit Blick auf den Übergang zur nachhaltigen Entwicklung.

Walter Schiesser

    Ulrich Beck: Was ist Globalisierung? Suhrkamp, Frankfurt 1997. 200 S., Fr. 24.-.

    Klaus von Dohnanyi: Im Joch des Profits? Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1997. 336 S., Fr. 39.-.

    Viviane Forrester: Der Terror der Ökonomie. Zsolnay, Wien 1997. 216 S., Fr. 34.10. Goldmann, München 1998. 220 S., Fr. 12.50 (Gesamtauflage des französischen Originals: 350 000).

    Die Gruppe von Lissabon: Die Grenzen des Wettbewerbs. Luchterhand, München 1997. 3. Aufl., 224 S., Fr. 34.80.

    Hans-Peter Martin und Harald Schumann: Die Globalisierungsfalle. Rowohlt, Reinbek 1998. 16. Aufl. (Gesamtauflage 260 000), 384 S., Fr. 35.-.

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