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Samstag, 26. September 1998

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NZZ Monatsarchiv

Neue Zürcher Zeitung ZEITFRAGEN Samstag, 26.09.1998 Nr. 223  81

Zusatzinformation: Textkasten: Originalton Usama bin Ladin

Globalisierung des Schreckens - Privatisierung der Tat

Der neue Terrorismus ist nicht mehr politisch, sondern religiös motiviert

Von Bruce Hoffman*

    Eine Serie jüngster Gewalttaten zeigt, dass sich der Terrorismus in den letzten Jahren verändert hat. Der politisch inspirierte, von einzelnen Staaten getragene Terrorismus gegen klar definierte Ziele oder Gegner hat religiös begründeten Attentaten Platz gemacht, die von kleinen, schwer fassbaren Gruppen begangen werden. Diese verfügen über die Fähigkeit, weltweit zuzuschlagen. Das Motiv ihres Handelns ist primär religiöser Natur.

    Eine ganze Reihe von Gewaltakten der jüngsten Vergangenheit zeigen, dass der Terrorismus eine der grössten Bedrohungen der globalen Sicherheit ist und weiterhin bleiben wird. Dabei bestätigen die Attentate auf die amerikanischen Botschaften in Nairobi und Dar es Salaam einen seit einiger Zeit zu beobachtenden neuen Trend des internationalen Terrorismus: Es geht um Massenanschläge gegen zufällige Opfer, ausgeübt von schwer fassbaren Tätern, die - ganz oder teilweise von einem religiösen Imperativ getrieben - weit über die traditionellen Einsatzgebiete in Europa und Nahost hinaus am Werk sind.

    Früher war der Terrorismus die Sache von Einzelnen; diese gehörten einer identifizierbaren Gruppe mit klarem Befehls- und Kontrollapparat an und verfolgten genau definierte politische, soziale oder wirtschaftliche Ziele. Radikal linke Organisationen wie die japanische Rote Armee, die Rote Armee Fraktion (RAF) in Deutschland, die italienischen Roten Brigaden, aber auch ethno-nationalistische Terrorbewegungen wie die Organisation Abu Nidal, die IRA und die baskische Separatistengruppe ETA widerspiegeln dieses Klischee der traditionellen Terroristenvereinigungen. Sie bekannten sich jeweils in Communiqués nicht nur zu ihren Aktionen, sondern versuchten sie jeweils auch zu erklären; so widerlich ihre Ziele und Motivationen auch sein mochten, ihre Ideologie und ihre Absichten waren deshalb zumindest verständlich.

    Am auffälligsten aber war, dass diese Gruppen bei ihren Gewaltakten höchst selektiv vorgingen. Sie fassten für ihre Anschläge «symbolische» Ziele ins Auge, die den Anlass ihrer Feindseligkeit repräsentierten (Botschaften, Banken, Fluggesellschaften usw.), oder entführten und ermordeten bestimmte Personen, die sie für wirtschaftliche Ausbeutung oder politische Unterdrückung verantwortlich machten. Selten wagten sich diese Gruppen über ihr selbsterklärtes Operationsgebiet (zumeist die eigenen oder die Nachbarländer, allenfalls bestimmte internationale Zentren von Diplomatie und Handel) hinaus. Daher waren palästinensische und libanesische Terroristen häufig in Europa tätig, und gelegentlich schlug die IRA in Deutschland oder die ETA in Frankreich zu. Fast drei Jahrzehnte lang beschränkte sich daher der Tatbereich des internationalen Terrorismus auf Europa und Nahost; nur gelegentlich griff er auf Asien und Lateinamerika und fast nie auf Afrika über.

Der Befehl Gottes

    Schliesslich waren diese Gruppen in der Regel zahlenmässig begrenzt. Der harte Kern weder der japanischen Roten Armee noch der RAF zählte vermutlich je mehr als 30 Mitglieder. Die Roten Brigaden waren mit einer Gesamtzahl von 50 bis 75 aktiven Terroristen nicht viel grösser. Selbst die IRA und die ETA konnten nur vielleicht 200- 400 Aktivisten zu Gewalttaten aufbieten, während die gefürchtete Organisation von Abu Nidal über rund 500 Bewaffnete verfügte.

    Charakteristisch für den heutigen Terrorismus ist dagegen der Satz des Rabin-Mörders Yigal Amir, der nach seiner Tat erklärte: «Ich bereue nichts, ich habe allein und auf Befehl Gottes gehandelt.» Diese Worte hätten ebensogut die militanten Islamisten aussprechen können, die der Bombardierung der beiden US-Botschaften verdächtigt werden, wie jene, die im vergangenen November im ägyptischen Luxor Touristen massakrierten, oder wie jene beiden Amerikaner, die als Anhänger einer christlich-fundamentalistischen und rassistischen Weltanschauung aus einer paranoiden Mischung von Millenniums-Erwartungen heraus ein Verwaltungsgebäude in Oklahoma City in die Luft sprengten.

Zwang zur Massentötung

    In jedem dieser Fälle wurde die Religion nicht nur als Erklärung, sondern als Rechtfertigung der Gewaltakte benutzt. Noch beunruhigender ist, dass in einigen Fällen die Zielsetzung der Terroristen weit über die Errichtung irgendeiner ihrem spezifischen Gott unterstellten Theokratie hinausgeht; die Handlungsmotive umfassen vielmehr auch mystische, fast transzendentale, von himmlischen Mächten inspirierte Befehle oder aber radikale und vehement regierungsfeindliche Formen eines «Populismus», der sich auf weit hergeholte Verschwörungstheorien - bestehend aus einer Mixtur von aufrührerischen, rassistischen und religiösen Maximen - stützt.

    Was es mit sich bringt, wenn der Terrorismus von einem religiösen Zwang zu Massentötungen motiviert ist, hat sich bereits bei den Gewalttaten verschiedener islamischer Schia-Gruppen erwiesen. Obwohl z. B. diese Organisation nur 8 Prozent aller belegten internationalen Terrorakte zwischen 1982 und 1989 verübte, war sie doch für fast 30 Prozent der Opfer verantwortlich.

    Tatsächlich steckte in einigen der bedeutendsten Terrorakte der neunziger Jahre immer ein religiöses Element. Dazu zählen:

-der Bombenanschlag auf das World Trade Center
von New York durch islamische Radikale, die
bewusst versuchten, einen der Zwillingstürme auf den
andern zu kippen (1993);

-eine Serie von 13 Autobomben, die 400 Personen
tötete und mehr als tausend verletzte - als Vergeltung
für die Zerstörung eines islamischen Heiligtums
(1993);

-die Entführung eines Passagierjets der Air France
durch islamische, der algerischen GIA angehörige
Terroristen und der schliesslich vereitelte Plan, sich
selbst, das Flugzeug und die 283 Insassen genau über
Paris in die Luft zu jagen (1994);
-der Nervengasangriff auf die Tokioter
Untergrundbahn, bei dem ein Dutzend Menschen getötet und
4000 verletzt wurden (1995);

-der Bombenanschlag auf ein Bürogebäude der
amerikanischen Bundesregierung in Oklahoma City, bei
dem 168 Personen umkamen (1995);

-die Welle von Bombenattentaten in Frankreich, die
von der algerischen GIA ausgelöst wurde und
8 Todesopfer und mehr als 180 Verwundete forderte
(1995);

-die Selbstmordattentate der Hamas, die den Ausgang
der nationalen Wahlen in Israel mit einer Kette
blutiger Überfälle mit 60 Todesopfern entscheidend
beeinflussten (1996);

-die militanten ägyptischen Islamisten, die eine
Gruppe westlicher Touristen vor ihrem Hotel in
Kairo überfielen und 18 Personen töteten (1996);

-der Lastwagen-Bombenangriff auf einen Stützpunkt
der amerikanischen Luftwaffe in Dharan,
Saudiarabien, bei dem militante religiöse Gegner des
saudischen Regimes 19 Menschen töteten (1996);

-die Massakrierung von 58 ausländischen Touristen
und 4 Ägyptern durch Angehörige der
Terroristengruppe Al-Jamaa al-islamiya im Tempel der
Pharaonin Hatschepsut in Luxor (1997);

-die Bombenattentate auf die US-Botschaften in
Kenya und Tansania mit insgesamt 257 Toten und
etwa 5000 Verwundeten (1998).

        Wie diese Vorfälle zeigen, führt der religiös motivierte Terrorismus oft zu Anschlägen mit besonders heftiger Gewaltanwendung und entsprechend höheren Opferzahlen - zumindest verglichen mit den relativ wählerischen Taten säkularer Terrororganisationen. Zu erklären ist dies mit den radikal unterschiedlichen Wertsystemen, den unterschiedlichen Legitimationsmechanismen, den anderen Moralbegriffen sowie ganz generell mit der manichäischen Weltsicht, welche das Handeln der religiös motivierte Terroristen prägt. Für diese Terroristen ist die Gewalt zuerst und vor allem eine göttliche Pflicht, angewendet als Konsequenz einer theologischen Forderung und gerechtfertigt durch heilige Schriften.

    Die Religion fungiert somit als legitimierende Instanz; sie sanktioniert ausdrücklich Gewalttätigkeit im grossen Stil gegen eine fast grenzenlose Kategorie von Feinden - nämlich alle Menschen, die nicht der Religion oder dem Kult der Terroristen angehören. Dies erklärt, warum entweder eine spezifische kirchliche Sanktion oder die Herausgabe eines religiösen Erlasses (wie etwa der von Usama bin Ladin vor den Botschaftsanschlägen proklamierten Fatwa gegen Amerika) für religiöse Terroristen so wichtig ist oder weshalb von religiösen Persönlichkeiten oft der Segen (und damit die Zustimmung) für Anschläge erbeten wird, bevor man diese ausführt.

Traditionelle Gegenstrategien versagen

    Das Auftauchen von obskuren, fanatischen Millennium-Sekten, von verbissen nationalistisch- religiösen Gruppen oder von militant regierungsfeindlichen paramilitärischen Organisationen stellt daher eine potentiell tödlichere Bedrohung dar, als sie vom traditionellen Terroristen ausging. Denn die organisatorischen Merkmale und Verhaltensweisen dieser Bewegungen stimmen nicht mit unseren bisherigen Erfahrungen überein. Diese Tatsache spielt eine zentrale Rolle im Hinblick auf mögliche Abwehrmassnahmen von Regierungen, Polizei und Sicherheitsdiensten. Die unmittelbarste Herausforderung besteht dabei schlicht im Problem, diese terroristischen Gruppen zu identifizieren, produzieren diese amorphen Einheiten doch oft keinen einzigen «Fussabdruck» beispielsweise in Form eines erkennbaren Modus operandi, wie dies für wohlorganisierte, bereits existierende Terrororganisationen charakteristisch ist. Dementsprechend schwierig ist es für Nachrichtendienste oder die Polizei, sich ein klares, vollständiges Bild von den Absichten solcher Gruppen zu machen, geschweige denn deren Gewaltfähigkeit abzuschätzen, bevor sie erstmals zugeschlagen haben.

    Ausserdem führen die traditionellen Massnahmen und Strategien zur Bekämpfung des Terrorismus in diesen Fällen möglicherweise gar nicht zum Ziel. Politische Zugeständnisse, finanzielle Belohnungen, Amnestien und andere persönliche Anreize, die schon oft mit Erfolg gegen säkulare Terroristen eingesetzt worden sind, dürften unwirksam sein angesichts der fundamental anderen Weltanschauungen und kompromisslosen Forderungen religiöser Terroristen.

    Diese künftige terroristische Bedrohung zu bekämpfen verlangt nicht nur Intelligenz, sondern auch fortgesetzte - und intensivierte - internationale Zusammenarbeit. Bei der transnationalen Dimension vieler dieser Gruppierungen - von bin Ladins angeblichen Finanz- und Terrororganisationen, den umfassenden Aktivitäten der Aum- Sekte in Russland, Australien und Japan bis zu dem europäischen Netzwerk algerischer islamischer Extremisten - wird dies eine verstärkte internationale Zusammenarbeit erfordern. Dies betrifft insbesondere die geheimdienstliche Kooperation, die erleichterte, vertraglich abgesicherte Auslieferung von Verdächtigen sowie ganz generell die Koordination nationaler Massnahmen zur Überwachung, Vereitelung und gerichtlichen Behandlung terroristischer Akte.

    Kurz, das Aufkommen dieses neuen Typs von Terrorismus bedeutet, dass nicht weniger als ein fundamentales Umdenken betreffend den Terrorismus und die erforderlichen Taktiken zu dessen Bekämpfung notwendig ist. Zu oft in der Vergangenheit haben wir uns dem Glauben hingegeben, dass der Terrorismus zu den am wenigsten ernsthaften Sicherheitsproblemen gehöre. Das kann sich die Welt keinesfalls mehr leisten.

    * Der Verfasser leitet das «Centre for the Study of Terrorism and Political Violence» an der St. Andrew's University in Schottland. Er hat soeben das Buch «Inside Terrorism» (Verlag Victor Gollancz, London) publiziert.

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