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SZ vom 01.10.1999

Noten und Notizen

Die Physiognomik des Chefs

Unter den „verblassten Mythen“ ist einer noch nicht aufgefallen: der Rüstungswettlauf. Es gibt ihn zwar noch in exotischer oder in Kümmerform, etwa zwischen Indien und Pakistan. Aber als unentrinnbares Weltgesetz der Entwicklung in hundertfach gepanzerter Sicherheit ist er bereits aus der kollektiven Erinnerung verschwunden. Ein halbes Jahrhundert lang, bis 1989, war ein Voranschreiten in der Geschichte ohne den Rüstungswettlauf und die von ihm hervorgetriebenen Fortschritte nicht zu denken.

Weitere Verlustmeldungen

Doch selbst heute noch, da nichts mehr zu ihm zwingt, ist der Westen unfähig, sich eine Welt vorzustellen, in der dieser Wettlauf mit Absicht und Willen stillgestellt ist. Es ist eine tief sitzende Pathologie. Wenn die USA, nun allein auf hoher Spitze, noch immer weiterrüsten und ständig neue raffinierte Waffensysteme ersinnen, für die es keinen Gegner mehr gibt, so ist das nunmehr zu einer egomanischen, weltlosen Selbstbefriedigung geworden. Die Europäer, die eifrig hintennachlaufen, entschuldigen das immerhin mit notwendigen Geschäften und Arbeitsplätzen – was moralisch noch unsauberer ist als das amerikanische Zwangsverhalten. Pathologisch ist dieses Verhalten, weil der Zwang der Bipolarität aufgehoben ist und damit eine Rechtfertigung, die auf dem unvermeidlichen Kampf ums Dasein beruhte. Das entsprach auch der darwinistischen Sozialreligion der Amerikaner.

Das Wettrüsten ließ sich, da es sich um einen Kampf von Zivilisationsformen und von säkularisierten Religionen handelte, als geschichtsnotwendig wenigstens verstehen. Es war auch eine gesellschaftliche Bewegung, war geschichtlich. Nun scheint es, als könne Amerika gar nicht anders, als weiterzurüsten. Dieses perpetuierte Anhäufen von Gewaltmitteln ohne Gegner ist wie von einem Dämon getrieben. Es muss sich um einen Drang zur Selbstzerstörung handeln, um einen Autismus. Der einsame Rüstungslauf, dem kein Gewinnen winkt, ist von seinem Mythos der Lebenskonkurrenz verlassen und ohne Objekt. Also auch ohne Zeit, nämlich Zukunft. Da es sich um Amerika handelt, das Schwungrad des kapitalistischen Geistes, sind besorgte Gedanken angebracht. Wer denkt sie?

Aufschließen

Ein, zwei Jahrzehnte wird das sicherlich noch dauern, bis die so weit sind. Oder: zwei Generationen sind das Mindeste, bis die aufschließen, nach sechzig Jahren Diktatur.

So reden nicht nur die westdeutschen Normalspießer, so denken auch die Bataillone von Transformationsforschern, die sich an den Ostdeutschen und den übrigen Ostmitteleuropäern ihr Wissenschaftsbrot verdienen. Das ist nicht nur brutal, sondern auch beschränkt. Aber es zeigt den westdeutschen Kulturstand. Und so töricht die Rede von der Kolonisierung durch die Westdeutschen ist, weil sich da plötzlich ein System ins Nichts aufgelöst hatte und das Vakuum nach Füllung schrie: Im Nachhinein wird sie bestätigt durch die gewalttätige Idee von notwendiger Entwicklung.

Es ist nicht zu wünschen, dass die dort im Osten einmal „so weit“ sein werden, wie die hier. Denn das hieße, die europäische Stagnation zu verewigen, mit größter Energie auf der Stelle zu treten.

Ganz unverbindlich

„ . . . der biologisch Erwachsene ist nicht schon eo ipso ein voll entwickelter, reifer Mensch. Die meisten bleiben ihr Leben lang erwachsene Kinder, unreif, infantil.“ Der deutsche Philosoph Karl Löwith schrieb dies 1963 in seinem Aufsatz „Das Verhängnis des Fortschritts“. Zum Menschsein genüge es nicht, so schrieb er weiter, dass wir uns von Natur aus entwickeln, dazu bedürfe es eigener Schritte und Fortschritte und so weiter, und so fort. Und dann das humanistische Zivilisationsprogramm.

Seine Attraktivität wird dadurch gemindert, so muss man schließen, dass es die meisten ohnehin nicht schaffen, ganze Erwachsene und damit in Reife vollendete Menschen aus sich zu machen. Und schließen muss man auch, dass die Minderheit, die erwachsen werden darf und will, inmitten einer Mehrheit von nicht hinreichend gelungenen Menschenwesen wandeln muss. Erwachsen zu sein unter Unreifen und Infantilen ist eine große Belastung. Nichts trägt einen, und man weiß dann auch nicht, warum man ausersehen ist, sich zur vollen Reife zu entwickeln. Wenn so viele dazu verurteilt sind, unreif zu bleiben, muss es eine Qual sein, sich von vielen Erwachsen-Unerwachsenen umgeben zu wissen, unter ihnen zu leben. Man fühlt sich dauernd behindert – am Leben, das man normalerweise unter reifen und verantwortungsfähigen Menschen verbringen möchte. Man braucht dann starke Herrschsucht, um überleben zu können.

Karl Löwith hat die Konsequenzen seiner kühlen und hochfahrenden Feststellung wohl nicht ganz durchdacht. Sonst hätte er jede humanistische Hoffnung fahren lassen müssen. Doch viele talentierte und zielstrebige Menschen empfinden ähnlich. Sie fühlen sich dauernd durch die Stehengebliebenen und Fortschrittsverstockten behindert, das Richtige und Wichtige zu tun. Und zunächst muss man Löwith zugeben, dass sich seit seinen Jahren wenig geändert hat. Auch heute kann man die meisten Erwachsenen, mögen sie im praktischen Leben ihren Mann oder ihre Frau stehen, nicht als reif und als lebenserfüllt ansehen. Es sterben wenige, die sich sagen dürfen, sie hätten es erreicht.

Wenn viele Kulturkritiker ein Anwachsen von Infantilität unter den Europäern bemerkt haben wollen, so ist das weder beweisbar noch widerlegbar. Aber die meisten seriösen werden spontan zustimmen. Und sie werden hinzufügen, früher habe es mehr Erwachsene und weniger Unreife gegeben. Früher, etwa im 19. Jahrhundert, das man sich ja als sehr ernsthaft vorstellt. Oder im ersten Jahrzehnt nach Krieg und Nazi-Zeit, als die Leute weder Geld noch Zeit noch Leichtsinn für kindische Tändeleien hatten. Belege für die zunehmende Unreife der Zeitgenossen findet man dagegen die Menge: Die Kultur des ewigen Lächelns und Grinsens, den jugendlichen Mangel an Konzentration aufs Wesentliche, einen sinnlos kraftverschwendenden Zeitkonsum, den mangelnden Willen zur Belastung, das übermäßige Bedürfnis nach Berauschung durch Bilder – und noch viel mehr dergleichen, was der bürgerlich aufstrebende und nach eigenem Schicksal verlangende Mensch zu meiden und zu verachten hat. Mit solchen Urteilen muss der erwachsene und Berufsmensch auch sich selber zusammenhalten. Und wie die Dinge nun einmal liegen: Wenn die Welt noch zu retten ist, dann muss sie von Erwachsenen, von geübten Feuerwehrleuten, gerettet werden.

Stattdessen wird gern das Lob des Infantilismus verbreitet und das Unerwachsensein als notwendige Entwicklung begründet. So findet die kleine Theorie von einer Gesellschaft der Bastelbiografien viel Beifall unter der akademischen und der Medienintelligenz. Schon das Wort ist ein Hohn. Denn die Bastelbiografie, die vor allem aus einer Lebenstechnik des flexiblen Ausweichens besteht, meidet alles Feste, bringt keine einmalige und beschreibbare Persönlichkeit hervor, sondern nur Halbgares, Unbeendetes, Fetzen. Es ist eine scheinbar heitere, im Grunde jedoch defätistische Erwartung für alle, die in Mobilität infantil bleiben wollen. Das Formlose und Unbestimmte, das der Verbindlichkeit „Person“ aus dem Weg geht, zieht erst recht Gewalttätigkeit an. Und Unerwachsene streben gerne nach Führern, die ihnen dann schon die richtige Fasson geben.

Ab-Moderation

Fester Vorsatz, in diese Kolumne nichts mehr über die Person Gerhard Schröders zu schreiben, so lange wie möglich. Nicht nur nichts über seine Anzüge und seine Manieren, über seinen Umgang mit anderen und seine Auftritte, sondern auch nichts über seine politische Ästhetik. Das müssen jetzt allzu viele betreiben, auch erste Federn – weil es über seine politische Programmatik und den Dritten Weg schon per definitionem kaum etwas zu schreiben gibt. Er sagt selber, dass es zu ihm und seiner Sachzwangpolitik keine Alternative gibt, er ist also nicht diskutabel. Man sollte ihn beim Wort nehmen. Was an Vernünftigem und Unvernünftigem von der Regierung angerichtet wird, ist mit seinen Ministern abzuhandeln, tüchtigen Leuten zumeist. Er selber ist ja nur Katalysator der Macht für die Medien, will es sein.

Man sollte sich für die Person Schröder schon deswegen weniger interessieren, weil er uns die Zeitungen verdirbt, vor allem die politischen Redaktionen und das Feuilleton. Mangels festen politischen Futters und konturierter Gestaltung müssen die politischen Redakteure fortwährend Porträts des Chefs liefern und seine Physiognomik ausdeuten. Sie geraten dadurch leicht ins Feuilleton, kriegen unscharfe Zähne. Die Feuilletonisten, denen die Kultur seit längerem fade geworden ist, die sich mit den fleischlosen Knochen der Kulturschaffenden auch kaum ernähren können, fummeln dafür in der Politik herum. An ihr können sie sich nur moralisch-ästhetisch laben. Also wiederum Physiognomik des Chefs. Profitieren kann immer nur Schröder, der die Kultur und die Polit-Schreiber verachtet. Wenn man es mit der Politik ernst meint, sollte man sich dafür nicht hergeben. Schröder bringt uns wieder bei, dass es auch eine Charakterfrage ist, über wen man schreibt. Er ist für klare Freund-Feind-Verhältnisse und damit immerhin erfrischend.

Deutschland? Aber wo liegt es?

Wenn das Wort von der Berliner Republik eine ernsthafte Bedeutung haben sollte, so musste Vollendung gemeint sein, eine gesicherte Reife Deutschlands. Es hat sich aber sogleich der genius loci durchgesetzt. Hier angekommen aus Bonn sind Parvenus, die es am alten Ort noch nicht so deutlich gewesen waren. Und sofort verachten sie, wie die nun erst recht großmäuligen Berliner, die Provinz, in der sie großgeworden waren. Parvenu heißt „angekommen“, „angelangt“. Deutschland ist in Berlin nicht bei sich angelangt, es ist nur parvenu. Und die Provinzialität schaut umso krasser aus allen Ecken. CLAUS KOCH

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