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Sisi und Diana
Der Kosovo-Konflikt

Freitag, 6. November 1998

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NZZ Tagesausgabe

Neue Zürcher Zeitung BLICKPUNKT Freitag, 06.11.1998 Nr. 258  81

Zusatzinformation: Textkasten: Grosser Wert von Reserveoffizieren

Strategische Drehscheibe der Nato

Neues Rollenverständnis im Kommandobereich Europa Mitte

     Die Arbeiten an der neuen Nato-Kommandostruktur laufen auf Hochtouren. Die Zahl der Hauptquartiere und damit auch jene der hierarchischen Ebenen wird reduziert. Die Kommandobereiche Europa Mitte im niederländischen Brunssum und Nordwest in High Wycombe in Grossbritannien werden aufgelöst und als Regionalkommando Nord am Standort Brunssum neu gebildet. In einem Gespräch hat General Joachim Spiering, Oberbefehlshaber der Nato-Streitkräfte Europa Mitte, die Veränderungen von Konzept und Rollenverständnis erläutert.

     

Lz. Brunssum, Ende Oktober

    

    Die nach den Grundsätzen des «Lean Management» konzipierte neue Nato-Kommandostruktur soll im Frühjahr 1999, zum 50-Jahr-Jubiläum der Allianz, Realität werden. Die praktische Umsetzung des auf die veränderten Rahmenbedingungen ausgerichteten Modells bis zum Jahr 2003 verlangt von den betroffenen Stäben ein erhebliches Mass an zusätzlicher Arbeit. Davon betroffen ist vor allem auch das Hauptquartier Europa Mitte im niederländischen Brunssum.

    Wie General Joachim Spiering, der seine berufliche Laufbahn 1962 bei der Panzeraufklärungstruppe begonnen und bis Ende März dieses Jahres das IV. Korps der Bundeswehr in Potsdam befehligt hatte, in einem Gespräch erläuterte, werden die Kommandobereiche Europa Mitte (Afcent) und Nordwest (Afnorthwest) aufgelöst und als Regionalkommando Nord (Regional Command North) neu gebildet. Mit der Aufgabe, den Übergangsprozess zu gestalten, ist ein spezielles Stabselement, die sogenannte Transition Coordination Group, betraut. Gleichzeitig laufen intensive Vorbereitungen zur Aufnahme der neuen Nato-Mitgliedstaaten. Im Regionalkommando Nord werden später Vertreter Polens und Tschechiens ihre Arbeit aufnehmen.

Ein neues Rollen- und Selbstverständnis

    In erster Linie gilt es, Fragen von Personal, Infrastruktur und Kommunikationssystemen zu lösen. Auch auf Grund des erweiterten Zuständigkeitsbereichs des neuen Regionalkommandos Nord muss aber nicht zuletzt auch den militärstrategischen und operativen Aspekten besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Denn in diesem Kommandobereich Nord werden in Zukunft Operationen aller drei Teilstreitkräfte zu koordinieren sein, da der Radius der Verantwortung über den Ostseeraum bis nach Nordskandinavien und in die angrenzenden Gewässer reicht und später auch Polen und Tschechien umfassen wird. Im Hauptquartier in Brunssum wird deshalb später auch eine grössere Zahl von Marineoffizieren Dienst leisten.

    Wichtig ist aber vor allem, wie der Oberbefehlshaber betonte, das gewandelte Rollen- und Selbstverständnis, mit andern Worten: die neue Identität, auf die man sich einzustellen haben wird. Während zur Zeit des kalten Krieges Afcent im Zentrum stand und sich im Rahmen der Verteidigungsplanung mit Schwergewicht auf Bodenoperationen vorzubereiten hatte, haben sich unter den gegenwärtig herrschenden weltpolitischen Verhältnissen die Akzente verschoben. Der Schwerpunkt des Bündnisses hat sich, was die wahrscheinlichsten Einsatzoptionen betrifft, nach Süden verlagert. In der Terminologie des Bündnisses spricht man denn auch kaum mehr von der Südflanke, sondern von der Südregion. Während Europa Mitte früher - mit Blick auf einen allfälligen Angriff des Warschaupaktes - aus praktisch allen Nato-Kommandobereichen verstärkt werden sollte, sieht es sich heute in der Situation, gegebenenfalls selber substantielle Kräfte zugunsten des Kommandobereichs Süd abgeben zu müssen.

    So führte beispielsweise der Stab des Allied Rapid Reaction Corps die Landstreitkräfte der Ifor in Bosnien-Herzegowina; dieser wurde anschliessend von einem nach Sarajewo dislozierten Stab des Hauptquartiers Landcent in Heidelberg im Rahmen der Sfor abgelöst. Noch heute leistet Personal des Hauptquartiers Afcent Dienst im Sfor-Hauptquartier in Sarajewo. Von einer Marginalisierung kann also nicht die Rede sein. Europa Mitte ist quasi zur strategischen Drehscheibe geworden. Auch mit Blick auf eine allfällige Kosovo-Operation soll der Kommandobereich Süd die Führungsverantwortung innehaben und Europa Mitte die nötigen personellen und materiellen Ressourcen stellen.

Militärische Kulturen zusammenführen

    Mit Blick auf eine künftige friktionslose Kooperation mit den neuen Mitgliedstaaten kommt der Interoperabilität und der Kompatibilität eine hohe Bedeutung zu. Es wäre verfehlt, so unterstrich General Spiering, diesen Bereich nur unter einem militärisch-technischen Blickwinkel zu betrachten. Natürlich müssten insbesondere Übermittlungssysteme modernisiert werden; in erster Linie gehe es jedoch darum, gerade bei den ehemaligen Warschaupaktstaaten Verständnis für die in der Nato gültige Führungsphilosophie zu schaffen, die das Individuum ins Zentrum stelle. Es handle sich gleichsam darum, unterschiedliche militärische Kulturen zusammenzuführen.

    Dies sei indessen nur in einem längerfristig angelegten Prozess überhaupt zu bewerkstelligen. Der Warschaupakt sei zwar in politischer Hinsicht kein monolithischer Block gewesen. Hingegen sei es der Sowjetunion gelungen, «zwischen Magdeburg und Wladiwostok» ein einheitliches militärisches Denken einzupflanzen, in dem Respekt für den Menschen einen geringen Stellenwert und Auftragstaktik, das heisst: Eigenverantwortung im Rahmen der jeweiligen Aufgabe, keinen Platz gehabt habe. Als früherer Kommandierender General des in den neuen deutschen Bundesländern stationierten IV. Korps weiss der heutige Oberbefehlshaber Europa Mitte genau, wie schwierig es ist, ein neues Führungsverständnis zu bilden und zu festigen. Die als neue Nato-Mitglieder vorgesehenen ostmitteleuropäischen Staaten folgen insgesamt der Auffassung, dass zum jetzigen Zeitpunkt die sprachliche Schulung an erster Stelle stehen muss. Wegleitend ist die Einsicht, dass nur solide Englischkenntnisse die Basis für eine fruchtbringende Teilnahme an ausländischen Lehrveranstaltungen und eine ebenso erfolgversprechende Mitarbeit in internationalen Stäben bilden. Offiziere, die Schulen und Kurse mit Auszeichnung bestanden haben, werden später mit wichtigen Posten betraut.

Die Nato lernt von Partnerstaaten

    Im operativ-taktischen Bereich wiederum gilt es, das Verständnis für das Zusammenspiel von Teilstreitkräften zu schaffen. Während in westlichen Armeen schon seit langem Synergien durch den koordinierten Einsatz aller Teilstreitkräfte bei gleichzeitigem multinationalem Kräfteansatz in der Operationsführung erreicht werden, war die Praxis in den Armeen des Warschaupaktes eine andere. Teilstreitkräfte, ja sogar einzelne Truppengattungen hatten eine zum Teil grosse Selbständigkeit, was sich auch in den entsprechenden - weniger effizienten - Stabsstrukturen widerspiegelte. Ganz allgemein gesprochen soll dem Gedanken der «Jointness», wie die Amerikaner sagen, zum Durchbruch verholfen werden.

    Daneben ist das Hauptquartier seit bald fünf Jahren mit dem Programm der Partnerschaft für den Frieden intensiv beschäftigt. Diese Plattform für intensivierte, praktische Zusammenarbeit ehemaliger Warschaupaktstaaten und neutraler Länder mit der Nato wird als zentraler Bestandteil der neuen Sicherheitsarchitektur gesehen. Augenblicklich bereitet das Hauptquartier Afcent die Übung «Cooperative Guard 99» vor, die im kommenden Mai in der Tschechischen Republik stattfinden soll, die dannzumal nach politischem «Fahrplan» offizielles Mitglied der atlantischen Allianz sein wird. An der planerischen Vorbereitung wirken ebenfalls Angehörige von Partner- Armeen mit. Diese sind in einer besonderen Stabsorganisation eingegliedert, welche nicht integrierter Teil des Hauptquartiers ist, sondern als assoziierter Stab eng mit dem entsprechenden Stabsteil von Afcent zusammenarbeitet. Shape (Supreme Headquarters Allied Powers Europe) und Afnorthwest verfügen ebenfalls über solche Partnerschafts-Stabselemente (Partnership for Peace Staff Elements). Bis zum Beitritt arbeiten auch die neuen Mitgliedstaaten in diesen Strukturen. An den Combined Joint Task Forces (CJTF), diesen wichtigen Pfeilern der Struktur und des operativen Konzepts der Nato, sollen die Partnerländer von Fall zu Fall beteiligt werden.

    Gemäss den Worten des Oberbefehlshabers kann die Nato aber auch von den Partnerländern profitieren. Gerade mit Blick auf Peace-Support- Operationen (PSO) verfügten Staaten wie Finnland, Österreich, Polen und Schweden über einen reichen Erfahrungsschatz, aus dem auch die Allianz Gewinn ziehen könne. In diesem Sinne sei die Partnerschaft für den Frieden in keiner Weise eine «Einbahnstrasse». Auf Grund von entsprechenden Erkenntnissen seien beispielsweise die PSO-Führungsprinzipien adaptiert und verbessert worden. Im Rahmen von Übungen der Partnerschaft für den Frieden werden einheitliche Grundsätze und Verfahren für die Führung multinationaler und aus verschiedenen Teilstreitkräften zusammengesetzter Verbände in Peace-Support- Einsätzen ausgebildet. General Spiering beabsichtigt, das Schwergewicht in diesem Bereich von anfänglichen Aktivitäten auf Zugs- und Kompanie- Niveau weiter auf die Stufe der Brigade und sogar auch auf die operative Ebene zu verlagern und gleichzeitig anspruchsvoller zu gestalten.

    Nicht zuletzt erhält der zivil-militärische Bereich, das heisst die Kooperation mit der Uno, dem IKRK und Nichtregierungsorganisationen eine wachsende Bedeutung. Auch die Zusammenarbeit mit den Medien nimmt einen wichtigen Platz ein, denn es wird gemäss General Spiering keine Operation mehr geben - auch keine gemäss Artikel 5 zur Verteidigung des Bündnisgebietes -, die nicht rund um die Uhr von den Medien «überwacht» werde. Auch in dieser Hinsicht haben sich die ehemaligen Ostblockstaaten auf die neue Situation einzustellen und die Zusammenarbeit mit zivilen Institutionen und Medien zu intensivieren.

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