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Ludwig Watzal
Denken ohne Scheuklappen
Ungewohnte Ansichten zum Nahost-Konflikt
Im israelisch-palästinensischen Konflikt will kein Durchbruch gelingen.
In Israel und Palästina schaffen potenzielle und wirkliche Angst ein Klima
der ständigen Bedrohung, - ein Lebensgefühl, an das sich die Menschen gewöhnt
haben und doch nicht gewöhnen können. Anlässlich der alltäglichen Gewalt
ist eine solche Haltung auch verständlich. Mit der durch die Terroranschläge
ausgelösten Angst befassen sich die Beiträge der zehn palästinensischen,
israelischen und arabischen Schriftsteller nur sekundär; primär geht es
ihnen um die Kontrolle der kollektiven Erinnerung als Teil des gewaltsamen
existenziellen Kampfes um das nationale Überleben.
Die Beiträge eines Symposiums in Zürich geben Aufschluss über die Zerrissenheit
in ihrer Heimat. Die Teilnehmer sind alles andere als die typischen Vertreter
beider Völker. Ihre Ideen liegen abseits des Mainstreams und sind deshalb
umso bedenkenswerter. Sie zeigen, dass es gelungen ist, aus den in den jeweiligen
Gesellschaften dominanten Gesprächsmustern und Streitkulturen, die in einem
hohen Maße inkompatibel sind, auszubrechen.
Schuld anerkennen
So fordert der Politikwissenschaftler Ilan Pappe von der Universität
Haifa die Einsetzung einer Wahrheitskommission nach dem Beispiel Südafrikas
für Israel und Palästina. Pappe geht davon aus, dass ein Weg weg von der
Gewalt und hin zur Versöhnung nur dann möglich sein wird, wenn Israel seine
Schuld am Schicksal der Palästinenser anerkennt, und zwar seit 1948. Die
dominante Meinung der israelischen Linkszionisten geht davon aus, dass bis
1967 die Araber die Bösen gewesen seien und seit 1967 - mit der Besetzung
der Westbank - die Israelis. Eine solche Konstruktion entbehre jedes historischen
Gedächtnisses.
Von den Palästinensern fordert Pappe die Anerkennung der zentralen Rolle
des Holocausts in der israelischen Gesellschaft. Diese müsse universalisiert
werden und die Manipulation dieser Erinnerung durch den Zionismus aufhören.
"Versöhnung ist nur zu erreichen durch ein Ende der Viktimisierung und die
Anerkennung der Rolle Israels als Viktimisierer", so Pappe.
Samir El-Youssef, ein im Flüchtlingslager im Libanon aufgewachsener
und jetzt in London lebender palästinensischer Schriftsteller, spricht eines
der größten palästinensischen Tabus an: die Frage, ob auch das Gegenüber
ein Opfer und damit die Kritik am eigenen Verharren in der Opferrolle noch
zeitgemäß ist. Er kritisiert die unter arabischen Intellektuellen weit verbreitete
Leugnung des Holocausts. Er gehört damit zu einer winzigen Minderheit.
Einen weiteren außergewöhnlichen Beitrag lieferte die jüdisch-irakische
Kulturwissenschaftlerin Ella Shohat. Sie schildert, wie der europäisch
(aschkenasisch)-dominierte Zionismus den Mizrahim (orientalischen Juden)
ihre arabischen Wurzeln buchstäblich aus ihrem Körper auszutreiben versuchte.
Dies zeigt sie am Beispiel ihres Vaters auf, der aus einer gebildeten irakischen
Familie entstammte, in Israel aber als "primitiver Araber" erniedrigt wurde.
Mit ihrem Beitrag hält Shohat den Finger in eine offene Wunde Israels: die
orientalischen Juden als die jüdischen Verlierer des Zionismus.
Mit dieser Publikation ist es den Veranstaltern gelungen, jenseits der
ausgetretenen ideologischen Wege Lösungen aufzuzeigen, die zwar unbequem
sind, die aber letztendlich umgesetzt werden müssen, um den israelisch-palästinensischen
Konflikt friedlich zu lösen.
Rafik Schami (Hrsg.):
Angst im eigenen Land. Israelische und palästinensische Schriftsteller
im Gespräch
Nagel [amp ] Kimche, Zürich 2001; 174 S., 25,-
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