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Nr. 31 - 32 / 28. Juli / 4. August 2000


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"Wir sehen uns immer als Opfer"

Interview mit dem israelischen Menschenrechtler Eitan Felner

  Immer wieder kommt es zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Palästinensern und israelischen Soldaten wie hier in Bethlehem am 16. Mai.   Foto: dpa

Immer wieder kommt es zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Palästinensern und israelischen Soldaten wie hier in Bethlehem am 16. Mai. Foto: dpa


Anfang Juni fand in Jerusalem eine Konferenz über Jerusalem und die Lage der Menschenrechte statt; sie werden auch im Friedensprozess von beiden Seiten missachtet. Die Verträge von Oslo haben den Palästinensern bisher keine wirkliche Selbstbestimmung gebracht, trotz zahlreicher Symbole wie eigener Flagge, Briefmarken, Dudelsackkapelle, Reisepass und einem "Präsidenten" Arafat. Der Aufbau demokratischer Strukturen in Palästina kommt nicht voran. Korruption und autoritär-diktatorisches Gehabe dominiert. Eine stärkere Einmischung von Seiten der USA und der EU ist gefordert, um Israel zu Konzessionen in den Bereichen Jerusalem, Flüchtlinge, Siedlungen, Wasser und Außengrenzen zu bewegen. Ludwig Watza

Eitan Felner ist Direktor der israelischen Menschenrechtsorganisation BTselem in Jerusalem. Mit ihm sprach Ludwig Watzal.

-Änderte sich mit dem Friedensprozess die Wahrnehmung der Menschenrechte in der israelischen Gesellschaft?

Felner: In Bezug auf die israelische Gesellschaft gab es beim Thema Menschenrechte durch den Osloer Prozess keinerlei Veränderung. Die Menschenrechte sind kein Teil unserer politischen Kultur. Wenn die Gesellschaft sich überhaupt mit den besetzten Gebieten auseinandersetzt, dann sind die Menschenrechte kein Thema. Dies hat historische und politische Gründe. Historisch wurde Israel durch eine politische Ideologie ins Leben gerufen, die kollektivistisch war. Stichwort Kibbuz. Dies trifft auch für den Zionismus als nationaler Ideologie zu, der das jüdische Volk über das Individuum stellt. Beide Strömungen betrachten den Individualismus als unwichtig. Dies ändert sich erst allmählich, bedingt auch durch Veränderungen in der Welt. Heute ist es in Israel gestattet, stärker seine eigenen ökonomischen Bedürfnisse zu artikulieren. Zuvor gab es so etwas nicht. Es war tabu. Man musste sich für die Gesellschaft opfern. Für die politische Klasse ist dies aber noch nicht selbstverständlich. Ein ebenso wichtiger politischer Aspekt ist das "Phänomen vom Kindesmissbrauch", das heißt, als Gesellschaft sehen wir uns immer als Opfer und können nicht begreifen, dass wir selber schon zu Tätern geworden sind. Diese Einstellung hat sich mit Oslo nicht geändert.

-Halten Sie dieses "Syndrom" für gut, oder sollte die israelische Gesellschaft es überwinden?

Felner: Ich glaube, es ist kein gutes Syndrom. Es ist eine soziale Krankheit. Wegen des Leides des jüdischen Volkes in der Geschichte und speziell im Holocaust hat sich in der israelischen Gesellschaft eine Opferhaltung durchgesetzt. Selbst heute, da Israel im Nahen Osten die stärkste Macht ist, sieht sich das Land weiterhin als Opfer, als das kleine missbrauchte Kind. Dieses psychosoziale Problem beeinflusst unsere Politik gegenüber den Palästinensern bis heute.

-Verhindert dieses "Syndrom" nicht eine Normalisierung mit den Palästinensern?

Felner: Es gibt eine Art Bewegung, die sich um eine Normalisierung bemüht. Unsere Gesellschaft ist heute viel offener als vor 15 oder 20 Jahren, ihre eigenen Probleme zu diskutieren. Selbst bei der Frage der Flüchtlinge, die als Tabu gilt, gibt es in Israel mehr und mehr Stimmen wie z. B. die "neuen Historiker", die diese Fragen stellen. Früher wurde man dafür als Verräter gebrandmarkt. In dieser Hinsicht gibt es eine graduelle Veränderung. Die Politiker und die Intellektuellen haben die große Aufgabe, uns von diesem "Syndrom" zu befreien. Solange wir an diesem "Syndrom" leiden, ist es schwierig, eine dauerhafte Aussöhnung zu erreichen.

Wir müssen anerkennen, dass wir Frieden schließen müssen, weil es gut für uns ist, wir müssen anerkennen, dass wir dem anderen unrecht getan haben. Solange wir dies nicht anerkennen, können wir als die stärke Partei der anderen Seite jede Vereinbarung aufzwingen, die gut für uns ist. Eine solche Vereinbarung wird aber keine dauerhafte Aussöhnung bringen, sondern nur eine friedliche Kapitulation der anderen Seite. Dies ist aber keine Basis für einen dauerhaften Frieden, weil wir bei unserem Gegenüber eine enorme Frustration schaffen.

-Diese Beschreibung führt mich zu der Annahme, dass es in der israelischen Gesellschaft keine Betroffenheit wegen Menschenrechtsverletzungen an Palästinensern geben kann. Ist dies eine korrekte Interpretation?

Felner: Bei der Mehrheit der Gesellschaft gibt es keinerlei Gefühle dieser Art, abgesehen von den Menschenrechtsorganisationen. Neu ist jedoch, dass es einige Kräfte innerhalb der jetzigen Regierung wie Justizminister Jossi Beilin gibt, der durch einige Maßnahmen gezeigt hat, dass ihm Menschenrechte am Herzen liegen. Noch bis vor kurzem hatten wir nur Politiker in der Opposition, die sich für die Menschenrechte eingesetzt haben.

-Wie würden Sie die Arbeit Ihrer Organisation bewerten?

Felner: Es ist immer schwierig, hypothetisch zu antworten, wie sich die Dinge ohne BTselem entwickelt hätten. Obwohl sich auf der gesellschaftlichen Ebene wenig bewegt hat, haben wir auf der politischen Ebene Positives erreicht. Wenn ich mir die Probleme der Folter, Administrativhaft, Häuserzerstörungen oder des Wohnrechts der Palästinenser in Jerusalem ansehe, hat sich quantitativ etwas bewegt; dies begrüßen wir. Zusammen mit anderen Organisationen waren wir in der Lage, die israelische Gesellschaft zu beeinflussen, dass es heutzutage viel schwieriger geworden ist, die Fakten zu negieren. Was Israel aber tut, ist, die Fakten zu rechtfertigen. Dies ist nicht weniger problematisch.

Normalerweise negieren Regierungen die Verletzungen der Menschenrechte überall auf der Welt. Unsere Regierung leugnet nicht die Tatsache, dass sie gestern ein Haus zerstört oder jahrelang Verhörmethoden angewandt hat, die Folter darstellen. Problematisch ist deren Interpretation oder deren Rechtfertigung mit den Problemen vor Ort. Wir in BTselem haben immer wieder die Frage aufgeworfen, warum diese Verletzungen falsch sind. Ich muss mit Empörung feststellen, dass dies in Israel nicht selbstverständlich ist. Wir müssen in Israel eine Diskussion über diese Fragen vom Zaune brechen. ? -Kann die internationale Solidarität Ihnen bei Ihrer Arbeit helfen?

Felner: Die internationale Gemeinschaft spielt eine wichtige Rolle. Meines Erachtens hat sie diese Rolle unzureichend wahrgenommen. Insbesondere die USA und die Europäische Gemeinschaft haben noch Nachholbedarf. Beide sollten eine klarere Antwort an Israel schicken: Wenn Israel weiterhin zum Kreise der Demokratien gerechnet werden will, dann muss es sich auch an die Spielregeln halten. Dazu gehören gewisse Dinge, die man als Staat niemals gestatten darf. Dazu zählte in Israel eine weitestgehende Akzeptanz von systematischer Folter bis zur Entscheidung des Obersten Gerichts vom September 1999. Ein solches Verhalten war unter den westlichen Demokratien einzigartig. Oder nehmen Sie den Vorschlag eines Ministerkomitees vom 5. Juni, ein Gesetz einzubringen, das Geiselnahme erlauben soll. Ziel dieses Gesetzes soll die nachträgliche Legalisierung der Geiselnahme von zwei libanesischen Hisbollah-Persönlichkeiten sein.

-Gibt es gegen eine solche Maßnahme keine gesellschaftlichen Proteste? Stellen Sie sich vor, eine Demokratie beschließt ein Gesetz, das Geiselnahme erlaubt. Oder nehmen sie die Gesetzesinitiative zur Legalisierung von Folter.

Felner: Was das Gesetz zur Legalisierung von Folter angeht, kam es von Seiten liberaler Gruppen, Intellektueller und der internationalen Gemeinschaft zu einem Aufschrei. Auf Grund dieser Einwände hat die Regierung diese Gesetzesinitiative vorläufig eingefroren. Deshalb ist internationale Unterstützung für unsere Arbeit so wichtig. Keiner sollte wegen dieser außergewöhnlichen Entwicklung in Israel schweigen. Wenn man dazu schweigt, unterminiert man alle Bemühungen zum Schutz der Menschenrechte weltweit.

-Glauben Sie nicht, dass der Friedensprozess die Frage der Menschenrechte etwas in den Hintergrund gedrängt hat? Nach Unterzeichnung der Oslo-Verträge begann in Israel eine Diskussion dahin gehend, dass der Friedensprozess die Frage der Menschenrechte schon positiv lösen werde.

Felner: Es gibt sicherlich Regierungsvertreter hier in Israel und in den USA, die diese Meinung vertreten. Ihre Argumentation geht wie folgt: Der Grund für die Menschenrechtsverletzungen ist die Okkupation, deshalb müssen wir diese beenden, damit ist auch die Frage der Menschenrechte gelöst. Dies ist sowohl moralisch fragwürdig als auch politisch kurzsichtig. Es ist frustrierend zu sehen, dass den Palästinensern nach wie vor von Israel und auch von Arafat ihre Grundrechte verweigert werden. Diese Frustration wird keine Aussöhnung bewirken. ? -Nachdem Oslo unterzeichnet war, musste Ihre Organisation entscheiden, ob sie sich nur noch für die Einhaltung der Menschenrechte unter israelischer Besatzung oder auch in Arafats autonomen Gebieten verantwortlich fühlen sollte. Wie haben sie sich entschieden? Felner: Von Anbeginn an war es eine schwierige Frage, denn wir haben es in den Gebieten mit weniger als einer vollen Besatzung und weniger als mit voller Autonomie zu tun. Diese Situation stellt ein Dilemma für uns dar. Solange es noch keine volle Souveränität für die Autonomiegebiete gibt, betrachten wir sie weiterhin als besetzte Gebiete. Dass die Bewohner dieser Gebiete sich bis heute nicht frei bewegen können, zeigt die absolute Kontrolle Israels. Israel versucht der Welt zu beweisen, dass fast 95 Prozent der Palästinenser nicht mehr unter seiner Kontrolle sind. Dies ist einfach nicht wahr. Über zentrale Lebensbereiche, die alle Palästinenser betreffen, hat Israel immer noch die alleinige Kontrolle. Auf Grund dieser Tatsache müssen wir uns für beide Bereiche zuständig fühlen, obwohl es zu unserer raison detre gehört, unsere eigene Regierung und Sicherheitskräfte zu kontrollieren und die Dinge zu kritisieren, die in unser aller Namen geschehen.

-Die Lage der Menschenrechte in den Autonomiegebieten ist heikel. Trägt neben Arafat auch Israel eine gewisse Verantwortung dafür?

Felner: In all den Jahren hat es die pa lästinensische Autonomiebehörde versäumt, adäquate Institutionen zu schaffen wie eine unabhängige Gerichtsbarkeit, eine Zivilgesellschaft, eine freie Presse und unabhängige Nicht-Regierungsorganisationen etc. Dies deutet alles auf ein autoritäres Regime hin. Es gibt innerhalb der israelischen Regierung und dem Sicherheitsestablishment ein Interesse an einem autoritären palästinensischen Regime, damit Arafat die "Dreckarbeit" für uns erledigen kann. Yitzhak Rabin erklärte 1993, dass Arafat mit den islamischen Gruppen umgehen könne, ohne auf das Oberste Gericht und BTselem Rücksicht nehmen zu müssen. Genau dies ist eingetroffen. Obwohl es ein Oberstes Gericht und Menschenrechtsorganisationen in den Autonomiegebieten gibt, ignoriert Arafat beide. Die primäre Verantwortung für die Verletzungen liegt jedoch bei der Autonomiebehörde. Israel trägt trotzdem eine Mitverantwortung, weil es enormen Druck auf Arafat ausübt.

-Wenn man eine "Hitliste" von Menschenrechtsverletzungen aufstellen könnte, wie sähe eine solche aus? Felner: Es ist sehr schwer, eine solche Liste aufzustellen. Es gibt Aktionen, die wenige Menschen betreffen, die aber trotzdem sehr gravierend sind. So hat der Gebrauch von Schusswaffen bei Einsätzen durch die Sicherheitskräfte zu zahlreichen Toten geführt. Dies ist erheblich zurückgegangen, weil sich Israel aus den Bevölkerungszentren zurückgezogen hat. Demzufolge gibt es weniger Zusammenstöße. Die Fakten sprechen eine eindeutige Sprache. Auf diesem Feld ist es heute besser als vor Oslo. Oder nehmen sie die Politik der Abriegelung. Sie ist nicht so schlimm wie Folter oder der Gebrauch von Schusswaffen und hat weniger Tote gekostet, betrifft aber die gesamte Bevölkerung.

-Stimmen Sie der Hypothese zu, dass sich nach Oslo die Lage der Palästinenser in allen Lebensbereichen verschlechtert hat?

Felner: Nein. In einigen Bereichen ist es schlimmer, in anderen besser geworden. So ist es zum Beispiel im Bereich der Versammlungsfreiheit in Zeiten der Intifada zu wesentlich mehr Verletzungen als heute gekommen. Ich will damit nicht die Schwierigkeiten leugnen, die es immer noch gibt. In diesem Bereich gab es eine Verbesserung, und dies sollte anerkannt werden. In vielen Bereichen hat sich das Leben der Palästinenser jedoch verschlechtert. Ein großer Unterschied liegt in der Erwartungshaltung. Viele erhofften sich eine Verbesserung ihrer Lage, was nicht eingetreten ist, umso größer war die Frustration. Ein Friedensprozess sollte gravierende Veränderungen im Leben der Menschen bewirken, dies traf leider nicht ein. ? -Wie bewerten Sie die Tatsache, dass während des Friedensprozesses alle Verletzungen der Menschenrechte andauerten? Es gab zwar Unterschiede im Ausmaß oder ihrer Geschwindigkeit, aber bis heute dauern sie an.

Felner: Ein wichtiger Grund, warum die Verletzungen von Seiten Israels fortdauern, liegt in der taktischen Entscheidung der israelischen Politiker und der Gesellschaft, keinen Wandel im Grundsätzlichen herbeigeführt zu haben. Veränderungen wurden nur akzeptiert, weil seit Beginn der 90er-Jahre diese Art der Besatzung nicht mehr akzeptabel erschien. Ebenso wurde nicht akzeptiert, dass dieser Prozess auch für die Palästinenser gut sein sollte.

Um Fortschritte zu erzielen, müssen wir endlich die Ungerechtigkeiten anerkennen, die wir begangen haben und immer noch begehen. Solange sich die Einsicht nicht durchgesetzt hat, dass wir uns radikal ändern müssen, solange können wir als die stärkere Seite in diesem Friedensprozess nur unsere Interessen durchsetzen. Wenn es also gut für uns ist, lassen wir es zu, wenn nicht, bleibt alles beim Alten. Weil wir nicht unsere Vorstellungen von den Palästinensern verändert haben, hat diese Haltung unsere gesamte Politik einschließlich der Verletzung der Menschenrechte beeinflusst. Ohne eine Änderung unserer Haltung werden die Probleme im Bereich Menschenrechte auch zukünftig bestehen bleiben.

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