|
|
"Es wird immer noch gefoltert"
Interview mit dem palästinensischen Menschenrechtler Khader Shkirat
|
Die Zerstörung von Häusern gehört noch immer zum Alltag in den von Israel besetzten Gebieten.
|
Khader Shkirat ist Direktor der palästinensischen Menschenrechtsorganisation
"LAW - Society for the Protectio of Human Rights an the Enviroment" in Ramallah.
Das Interview führteLudwig Watzal.
-Als der Friedensprozess 1993 begann, waren die Menschen voller Erwartungen
und Hoffnungen. Man erwartete das Ende der Besatzung und der Menschenrechtsverletzungen.
Was ist heute aus dieser Hoffnung geworden?
Shkirat: Von den Erwartungen und der Freude, die es gab, ist nichts geblieben.
Israel hat den Palästinensern alles vorenthalten, auf was sie ihre Hoffnungen
stützen können. Die aggressive Politik Israels setzt sich unter dem Friedensprozess
fort. Das Leben der Palästinenser ist schwieriger und komplizierter geworden.
Einschränkungen der Bewegungsfreiheit hat es vor Oslo nicht gegeben. Heute
ist es sehr schwer geworden, von Gaza in die Westbank oder von der Westbank
nach Jerusalem zu kommen. In vieler Hinsicht war das Leben leichter. Ebenso
enttäuscht sind wir über die mangelnde Bereitschaft der Israelis, ihre Zusagen
einzuhalten. So wurden die politischen Gefangenen nicht freigelassen, Siedlungen
und Umgehungsstraßen weitergebaut und die Bewohner Ost-Jerusalems weiterhin
aus der Stadt deportiert. Die Israelis wollen Fakten vor den Statusendverhandlungen
schaffen, was zur Bantustanisierung und Fragmentierung der palästinensischen
Gebiete führt.
-Die Schwierigkeiten im Friedensprozess und im Bereich Menschenrechte
wurden im Westen immer der politischen Starrsinnigkeit Netanyahus zugeschrieben.
War eine solche Meinung schon damals eine Illusion, und welche Gültigkeit
besitzt diese für die Barak-Regierung?
Shkirat: Die USA ließen Netanyahu fallen, weil er ihren Interessen schadete.
Barak ist aber noch schlimmer als Netanyahu in der Schaffung vollendeter
Tatsachen. Im Gegensatz zu Netanyahu hat er keine schrille Rhetorik, und
er hat ein liberales Image. Da die Palästinenser nicht öffentlich klagen,
gewinnt die Weltöffentlichkeit den Eindruck, alles sei o. k. Barak erscheint
als ein Mann des Friedens, was aber nicht der Fall ist. Er ist in Bezug
auf Ost-Jerusalem und den Bau von Siedlungen schlimmer als Netanyahu. Netanyahu
behauptete, er baue zehn Siedlungen, tatsächlich baute er nur eine. Barak
tut genau das Gegenteil. Der Unterschied zwischen beiden liegt darin, wie
sie sich gegenüber der Öffentlichkeit darstellen und wahrgenommen werden.
Nehmen Sie z. B. die Zerstörung von Häusern. Seit Oslo wurden 776 Häuser
zerstört. Hunderte sind von der Zerstörung bedroht. Davor waren es wesentlich
weniger. Die Vertreibung der Palästinenser aus den von Israel kontrollierten
Gebieten wie der Zone C oder Ost-Jerusalem hat stark zugenommen. Palästinenser
werden gezwungen, aus Zone C in Zone A überzusiedeln. Dies ist eine "stille
Deportation". Sie trifft die Beduinen und die Bewohner Ost-Jerusalems.
-Wie hat sich die Lage der Menschenrechte der Palästinenser seit dem
Oslo-Prozess entwickelt?
Shkirat: Der Friedensprozess hat nicht die Natur der Menschenrechtsverletzungen
verändert. Sie haben zugenommen und sich in einigen Bereichen verschlechtert.
Landenteignungen, Häuserzerstörungen, Zugang zum Wasser, die Bewegungsfreiheit,
Folter, Deportationen und die Errichtung von Umgehungsstraßen haben nach
dem Friedensprozess zugenommen. Die Ausgangssperren sind zum Beispiel völlig
weggefallen. Aber tatsächlich ist nichts besser geworden. In den palästinensischen
Gebiete, in denen Israel keinen direkten Einfluss mehr ausüben kann, hat
sich etwas verändert: Dort gibt es jetzt die Menschenrechtsverletzungen
der Autonomiebehörde.
? --Können Sie die wichtigsten Menschrechtsverletzungen der Israels nennen?
Vor einigen Monaten entschied das Oberste Gericht in Israel, dass Folter
in Verhören verboten ist. Gibt es trotzdem noch Folter in Gefängnissen des
israelischen Inlandsgeheimdienstes Shin Bet?
Shkirat: Es wird immer noch gefoltert. Das Oberste Gericht in Israel hat
Folter nicht in Gänze als illegal verworfen. Es hat sie nur deshalb als
illegal bezeichnet, weil sie nicht auf einem Gesetz, sondern nur auf einer
Verordnung beruhte. Hätte Folter eine rechtliche Grundlage besessen, wäre
sie nicht verboten worden. Trotzdem ist es eine fortschrittliche Entscheidung,
und meine Organisation begrüßt sie; es ist aber noch nicht weitreichend
genug. Das Gericht hat aber Folter nicht gänzlich untersagt. Folter gegenüber
den Palästinensern ist in der israelischen Gesellschaft akzeptiert. LAW,
der Organisation, der ich vorstehe, hatte gerade zwei Fälle von Folter.
Die Israelis haben jetzt ihre Strategie geändert, sie benutzen jetzt palästinensische
Kollaborateure, um die Gefangenen zu foltern. 47 Mitglieder des israelischen
Parlaments, der Knesset, brachten einen Gesetzentwurf ein, um Folter zu
legalisieren. Im Augenblick liegt dieser Entwurf aber auf Eis.
? -Welche Politik verfolgt Israel gegenüber den Palästinensern aus Ost-Jerusalem?
Konfisziert Israel immer noch Identitätskarten mit all den daraus folgenden
Konsequenzen?
Shkirat: Wie unsere Konferenz Anfang Juni über Jerusalem gezeigt hat, geht
auch unter der Barak-Regierung diese Politik weiter. Bis heute gab es noch
keine neuen Vorschriften, aber man spricht über Veränderungen. 2 500 Familien,
ca. 20 000 Palästinenser, sind bisher davon betroffen worden. Der Verlust
der ID-Karte geht mit dem Verlust des Aufenthaltsrechtes in Ost-Jerusalem
einher. So können sich die Palästinenser nur noch illegal am Ort aufhalten.
Somit stehen den Menschen nicht mehr die normalen Vergünstigungen wie medizinische
Betreuung und andere soziale Einrichtungen zur Verfügung. Die Israelis zwingen
die Palästinenser, Ost-Jerusalem zu verlassen und in die Westbank oder Arafats
autonome Gebiete zu ziehen. Zu dieser Strategie gehört auch die Politik
der Häuserzerstörungen und die Landenteignungen zum Bau von Siedlungen und
Umgehungsstraßen.
? -Gibt es eine Strategie hinter dem Bau von Umgehungsstraßen?
Shkirat: Natürlich. Einerseits will man alle Siedlungen dadurch miteinander
verbinden, um die palästinensischen Orte zu umgehen. Andererseits will man
die palästinensischen Gebiete weiter zerstückeln, um sie dadurch zu desintegrieren.
Israel versucht, den Palästinensern die Benutzung dieser Straßen weitestgehend
zu verbieten. Diese Straßen versprühen einen Hauch von Apartheid.
-Warum wehren sich die Menschen nicht gegen den Siedlungsausbau, obwohl
er zu ihren Lasten geht?
Shkirat: Die palästinensische Gesellschaft widersteht nicht den Siedlungen,
weil sie sieht, dass die Autonomiebehörde korrupt ist. Es gibt eine Clique
von Leuten, die von Oslo profitiert haben und sich um die Sorgen der Menschen
nicht kümmern. Weiterhin gibt es einen Mangel an Demokratie und der Achtung
der Menschenrechte. Solange die Autonomiebehörde diese beiden Mängel nicht
beseitigt, wird sie keine Unterstützung von den Menschen erhalten.
-Auch die Autonomiebehörde kann keine positive Bilanz in Sachen Menschenrechte
vorweisen. Gibt es Menschenrechtsverletzungen durch Arafats Behörde?
Shkirat: Die gravierendste Menschenrechtsverletzung durch die Autonomiebehörde
ist Folter. Hinzu kommt die Einschränkung der Meinungsfreiheit, willkürliche
Verhaftungen, Demonstrationsverbot, Misshandlung durch die palästinensischen
Sicherheitskräfte sowie der Missbrauch der Macht der Behörde. Korruption
ist ebenfalls ein häufig auftretendes Phänomen.
-Wie würden Sie die Atmosphäre in Palästina beschreiben? Entspricht
sie der in einer demokratischen Gesellschaft oder eher der in einem autoritär-diktatorischen
Regime?
Shkirat: Es herrscht eine Atmosphäre der Furcht. Die Autonomiebehörde hat
sie durch ihre Unterdrückungsmethoden und ihre willkürlichen Übergriffe
geschaffen, ohne dafür zur Verantwortung gezogen zu werden. Die Menschen
werden eingeschüchtert und haben keine Gelegenheit, ihre Meinung frei zu
äußern. Die Medien werden eingeschüchtert und müssen zeitweise ihr Erscheinen
einstellen. Wie Arafat versucht, in allen gesellschaftlichen Bereichen
seine Macht durchzusetzen, hat die Verhinderung meiner Kandidatur für die
Palästinensische Anwaltskammer gezeigt. Durch einen Trick hat man die Wahl
verhindert, da man keine Mehrheit hinter sich hatte.
? -Haben Sie sich unter der israelischen Besatzung oder unter der Autonomiebehörde
freier gefühlt?
Shkirat: Man kann beides nicht vergleichen. Die Autonomiebehörde ist unser
Projekt. Ich stimme mit ihrer Politik überhaupt nicht überein, trotzdem
ist es unsere nationale Behörde. Trotz aller Menschenrechtsverletzungen
können wir es nicht mit der israelischen Besatzung vergleichen. Unser Kampf
soll zur Verbesserung der Politik der Autonomiebehörde führen. Der Kampf
gegen Israel zielt auf die Beendigung der Besatzung Palästinas.
? -Können Sie das palästinensische Rechtssystem generell beschreiben?
Welche Rolle spielt das Staatssicherheitsgericht?
Shkirat: Während des Besuches von US-Vizepräsident Al Gore in Jericho im
Februar 1995 forderte dieser von Arafat die Etablierung dieses Staatssicherheitsgerichtes,
um den Terrorismus zu bekämpfen und die Kritiker des Friedensprozesses mundtot
zu machen. Damit war klar, dass dies zum Zusammenbruch des palästinensischen
Rechtssystems führen würde. Vor diesem Gericht gibt es keine fairen Prozesse.
Die Verhandlungen vor dem Staatssicherheitsgericht dauern oft nur Minuten.
Lebenslange Haftstrafen und Todesurteile sind keine Seltenheit. Vor diesem
Gericht werden zunehmend Zivilisten, Menschenrechtler und Intellektuelle
abgeurteilt, wohingegen vor den Militärgerichten Straftaten von Polizisten
verhandelt werden. Zunehmend werden auch Zivilisten vor Militärgerichten
abgeurteilt. Beide Gerichtstypen tragen zur Unterminierung des Rechtssystems
bei.
-Welche Rolle spielt das Oberste Gericht in Palästina?
Shkirat: Das Oberste Gericht in Palästina fällt wichtige Entscheidungen
und Urteile, aber keines wurde jemals von der Exekutive befolgt oder umgesetzt.
"Das Oberste Gericht in Palästina" ist Präsident Arafat.
-Wie beurteilen Sie den Legislativrat, das sogenannte Parlament?
Shkirat: Der Legislativrat wurde im Januar 1996 gewählt. Die Menschen erwarteten
viel von ihren Vertretern. Präsident Arafat und seine Behörde waren erfolgreich,
indem sie den Legislativrat marginalisierten und ihn in die Exekutive integrierten.
Die Abgeordneten haben versagt, ihre eigenständige Existenz und Rolle zu
verteidigen. Der Legislativrat wurde zu einem Instrument der Unterdrückung
in den Händen von Präsident Arafat, wie das Beispiel der acht Abgeordneten
zeigt, die einen kritischen Brief unterzeichnet hatten, in dem der Autonomiebehörde
Korruption und der Ausverkauf Palästinas vorgeworfen worden ist. Selbst
der Präsident des Legislativrates, Achmed Qurei, spielte eine negative Rolle,
indem er den Legislativrat der Exekutive preisgab. Im Legislativrat gab
es einige kritische Abgeordnete, aber die haben resigniert. Sie sind frustriert.
Arafat blockiert alle demokratischen Möglichkeiten. Das geplante Grundgesetz
wird niemals verabschiedet. Dies hat Arafat selber gesagt. Er hasst Gesetze.
-Wie beurteilen Sie die Zukunft Palästinas?
Shkirat: Ich sehe die Zukunft meines Landes optimistisch. Wir haben ein
hochqualifiziertes zivilgesellschaftliches Potenzial, um eine Demokratie
aufzubauen, und wir haben den Mut, gegen die israelische Besatzung zu kämpfen.
Wir wollen endlich die Anerkennung unserer Menschenrechte. Es geht also
nicht nur um einen Staat, sondern die Frage ist, wie er aussieht, welche
Souveränität er besitzt und wo seine Grenzen verlaufen. Nur wenn die Palästinenser
volle Souveränität in den Grenzen von 1967 erhalten, die Frage der Flüchtlinge
gerecht gelöst sowie die Siedlungen aufgelöst sind, wird es dauerhaften
Frieden geben. Sollten diese Probleme nicht gerecht gelöst werden, kann
ich mir vorstellen, dass die Menschen in fünf Jahren gegen Apartheid und
die Bantustanisierung kämpfen. Die Ergebnisse des Friedensprozesses können
revidiert werden. Jeder Friede bedarf der Unterstützung durch das Volk.
Ich kann Ihnen versichern, dass das palästinensische Volk dieses Szenario
niemals akzeptieren wird. Es wird keinen Frieden und Stabilität geben, solange
die Palästinenser nicht ihre vollen Rechte genießen können. Erst dann werden
auch die Verletzungen der Menschenrechte aufhören.
Zurück zur Übersicht
|